Nelli Tügel

Journalistin, Redakteurin, Berlin

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»Dann habe ich mitgestreikt«

Überall auf der Welt organisieren sich Amazon-Arbeiter_innen, während der Milliarden-Konzern wächst und wächst. Der Kampf für menschenwürdige Arbeitsbedingungen ist ein harter. Von Nelli Tügel

Kurz vor Ostern, Bad Hersfeld in Hessen: Bei Amazon wird mal wieder gestreikt. Mit dabei ist Rosi Huth*, die normalerweise Retouren bearbeitet. Als sie 2012 bei Amazon anfing, sei sie glücklich gewesen, mit fünfzig noch quereinsteigen zu können, erzählt Huth bei einem Telefongespräch am Gründonnerstag: „Ich war eine 200-Prozent-Amazonierin." Das änderte sich mit der Zeit, als Huth merkte, dass Amazons Gerede von „Teamgeist" und „Wertschätzung" mit der Realität nur wenig zu tun hatte. „Dann habe ich mitgestreikt", sagt sie, „zum ersten Mal vor zwei Jahren."

„Am Anfang war alles noch schick, kein Stress, alle nett", berichtet auch Veronika Müller*, die 350 Kilometer nördlich von Bad Hersfeld arbeitet - in Winsen bei Hamburg. Das dortige Logistikzentrum öffnete 2017, kurz darauf fing Müller als Kommissioniererin an. Sie holt Waren aus den riesigen Lagern. In der Sprache des E-Commerce-Giganten heißt das „picken".

33 Prozent Corona-Plus. Bei Amazon wird gepickt und verpackt und transportiert, es werden Retouren bearbeitet und Waren eingelagert - und seit einiger Zeit liefern auch immer mehr eigene Zusteller_innen die Waren aus. Von 2013 bis 2019 hat der Konzern seinen Umsatz von 74 auf 233 Milliarden US-Dollar mehr als verdreifacht, seitdem ging es noch einmal steil bergauf: Amazon ist Corona-Krisen-Gewinner. Allein in Deutschland steigerte sich der Umsatz im vergangenen Jahr um 33 Prozent.

Möglich machen das mehr als eine Million Beschäftigte weltweit. Hinzu kommen Saisonkräfte, Angestellte über Zeitarbeitsfirmen und Subunternehmen. Sie alle stehen unter hohem Arbeitsdruck.

Entsprechend änderte sich auch Veronika Müllers Blick auf ihren Arbeitsplatz. Bei Amazon gibt es Vorgaben, wie viele Artikel in der Stunde kommissioniert oder eingelagert werden müssen. Diese werden stetig erhöht: Als Müller in Winsen begann, habe die Anzahl der pro Stunde zu bearbeitenden Artikel bei 180 gelegen, heute sind es 370. Das Arbeitstempo wird lückenlos dokumentiert, jeder Schritt über einen Handscanner überwacht, wer „zu langsam" ist, muss um den Arbeitsplatz fürchten, denn viele Verträge sind befristet.

Historische Abstimmung. Überwachung, Kontrolle, unmenschliches Arbeitstempo: Überall auf der Welt, wo Amazon Arbeitgeber ist, gibt es Berichte darüber. Erst kürzlich gab der Konzern in den USA zu, dass Fahrer_innen wegen fehlender Pausenzeiten gezwungen sind, in Flaschen zu pinkeln. Das war zuvor bereits ein offenes Geheimnis, doch Amazon hatte es auf Twitter gegenüber einem Journalisten geleugnet - der daraufhin Beweise vorlegte; Amazon musste sich öffentlich erklären.

In Seattle wurde das Unternehmen 1994 gegründet. Auch heute noch sind die USA der wichtigste Markt für Amazon; etwa vierzig Prozent aller Beschäftigten arbeiten dort, Amazon ist der zweitgrößte Arbeitgeber des Landes - und gewerkschaftsfreie Zone. Das US-Recht sieht vor, dass Arbei​ter_innen eines Betriebes in einer Abstimmung eine Gewerkschaft mehrheitlich als ihre Vertretung anerkennen müssen. Bislang konnte Amazon eine solche Anerkennungswahl an allen US-Standorten erfolgreich verhindern. In der Stadt Bessemer im US-Bundesstaat Alabama gab es nun einen ersten Versuch, das zu ändern - bei dem die Gewerkschaft RWDSU eine deutliche Niederlage erlitt: Eine große Mehrheit stimmte gegen sie als Vertretung. Gründe dafür gibt es viele. Sicherlich existierten berechtigte Ängste vor Amazons Rache; zugleich verweisen Beobachter_innen aber auch auf Skepsis unter den Beschäftigten, ob eine Gewerkschaft wirklich etwas verbessern könne, denn positive Erfahrungen damit fehlen. Hier hat sich die RWDSU offenbar verschätzt.

Dass Amazon Gewerkschaften rundweg ablehnt und dies teilweise auf fruchtbaren Boden fällt, wissen auch Rosi Huth und Veronika Müller nur zu gut. Früher habe sie selbst über ver.di gedacht: „Was wollen die eigentlich?", sagt Huth. Heute ist sie - wie auch Müller - Vertrauensfrau für die Dienstleistungsgewerkschaft, beide haben bereits mehrmals für einen Tarifvertrag gestreikt und beide wissen, dass noch viele Streiks und mehr nötig sein werden, um Amazon zu Zugeständnissen zu bewegen: Seit 2013 kämpfen Amazon-Arbeiter_innen in Deutschland, hunderte Streiktage haben sich angesammelt - bisher weigert sich der Konzern, über einen Tarifvertrag auch nur zu verhandeln.

Also alles umsonst? So sieht es Rosi Huth nicht: „Fakt ist, seit dem ersten Streik gab es Gehaltserhöhungen und wir kriegen jetzt 400 Euro Weihnachtsgeld." Sie ist überzeugt: Ohne die Gewerkschaft gäbe es das nicht. Im Logistikzentrum in Bad Hersfeld hat der örtliche Betriebsrat außerdem erreicht, dass die sogenannten Feedbackgespräche ausgesetzt wurden, in denen Vorgesetzte Leistung und Tempo der Arbeiter_innen bewerten.

Fest steht aber auch: Der Kampf erfordert einen sehr langen Atem. Und Amazon wächst und wächst. So schnell, dass die Gewerkschaften kaum eine Chance haben, mit ihrer Organisierung hinterherzukommen. Zudem sprengt der Konzern nationale und Branchen-Grenzen. Allerdings: Dies tun die Arbeiter_innen inzwischen ebenfalls, indem sie sich über Staatsgrenzen hinaus vernetzen.

Arbeiter_innenmacht. Warum das so wichtig ist, zeigt ein Blick nach Polen: Wenn in Winsen, Bad Hersfeld oder einem der anderen zwölf deutschen Logistikzentren gestreikt wird, verschiebt Amazon Aufträge in das östliche Nachbarland. Die neun polnischen Versandzentren beliefern bislang fast ausschließlich den deutschen Markt, 19.000 Arbeiter_innen sind dort angestellt, hinzu kommen 23.000 Menschen, die über Zeitarbeitsfirmen bei Amazon landen. Nur eine Minderheit hat einen unbefristeten Arbeitsvertrag, die Löhne betragen ein Drittel dessen, was Amazon in Deutschland zahlt. Das berichten Agnieszka Mróz und Magda Malinowska bei einem Zoom-Gespräch am Karfreitag. Die beiden jungen Frauen arbeiten als Packerinnen im Versandzentrum Poznan - und gehören der Basisgewerkschaft Inicjatywa Pracownicza („Arbeiter­initiative") an.

„Wir glauben nicht an Dialog mit Amazon oder Sozialpartnerschaft, sondern an Arbeiter_innenmacht im Betrieb und Solidarität", erklärt Mróz ihren Ansatz. Konkret bedeute dies z. B. sich gegenseitig zu helfen, indem man gemeinsam gegen Strafen wegen „zu langer" Pausen vorgehe. Die drängendsten Themen sind für sie „die permanente Unsicherheit durch befristete Arbeitsverträge, das Arbeitstempo und niedrige Löhne".

Malinowska und Mróz machen sich keine Illusionen, Amazon auf nationaler Ebene bezwingen zu können, sie betonen immer wieder die Bedeutung der Plattform Amazon Workers International. „Lokal können wir einige kleinere Auseinandersetzungen gewinnen, aber Großes erreichen wir nur international", so Malinowska. Gerade im vergangenen Pandemie-Jahr habe es hier Fortschritte gegeben: Forderungen und Vorgehensweisen wurden gemeinsam mit Kolleg_innen aus den USA, Frankreich, Deutschland oder Italien diskutiert und abgestimmt.

Agnieszka Mróz, Magda Malinowska, Rosi Huth und Veronika Müller - sie alle haben die Abstimmung in Bessemer/USA aufmerksam verfolgt. Und den Arbeitskampf der Kolleg_innen in Italien gefeiert, wo sich am 22. März 40.000 Amazon-Beschäftigte an einem Streik beteiligten, zum ersten Mal entlang der gesamten Lieferkette. „Wenn so was passiert, gebe ich es per Mund-zu-Mund-Propaganda an meine Kolleg_innen weiter", erzählt Müller. „Solche Nachrichten zirkulieren bei uns, das ist inspirierend - wir schicken dann Solidaritätsgrüße nach Italien, das ist einfach, aber total wichtig", erklärt Mróz. Und ergänzt: „Es gibt keine Abkürzung über Boykotte, EU-Gesetze oder Ähnliches. Nur die Arbeiter_innen bei Amazon können Amazon besiegen."

Nelli Tügel ist Redakteurin der linken Monatszeitung „analyse & kritik".

*beide Namen geändert

­Spendenkonto Basisgewerkschaft ­Inicjatywa ­Pracownicza ­(„Arbeiterinitiative"): OZZ Inicjatywa Pracownicza ul. Kościelna 4, 60-538 Poznań, Poland IBAN: PL28 2130 0004 2001 0577 6570 0014 BIC/SWIFT: VOWAPLP1

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