Nelli Tügel

Journalistin, Redakteurin, Berlin

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Meins oder deins?

Von Nelli Tügel Illustration: Judith Weber

„Meins oder deins, was für 'ne doofe Frage." So geht der Refrain eines bald fünfzig Jahre alten bekannten Agitprop-Songs des Berliner Grips-Theaters. Heute spielen so manche Eltern dieses Lied ihrem Nachwuchs vor, um die Notwendigkeit des Teilens zu thematisieren. Dabei ging es dem Grips-Theater nicht darum, Kinder zu lehren, auch mal ihre Schippe oder ein Stück vom Keks abzugeben. Dem Theaterkollektiv ging es um die Beschreibung eines gesellschaftlichen Verhältnisses, um Enteignung und darum, dass es relevantes Privateigentum nicht mehr geben soll, weil dann erst jeder Mensch bekommen könne, was er braucht. „Wäre das nicht fabelhaft? Mein und Dein wird abgeschafft", heißt es am Ende des Liedes.

Das war Anfang der 1970er-Jahre. Und auch wenn längst nicht alle Zeitgenoss*innen das teilten, verstand doch jede*r die Botschaft. Es gehörte damals zum Allgemeinwissen, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der einige sehr viel besitzen und andere nur ihre Arbeitskraft. Und das wiederum diejenigen, die Lohnarbeit verrichten müssen, den Reichtum derjenigen, in deren Händen sich Kapital konzentriert, vergrößern, ohne selbst jemals etwas von dem erwirtschafteten Profit zu erhalten. Daran hat sich zwar grundsätzlich nichts geändert. Zugleich aber ist das Reden über Eigentum - nicht über den Besitz einer Zahnbürste, schönen Schmucks oder eines Spätis, sondern über Kapitaleigentum - in den vergangenen Jahrzehnten fast völlig aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden. Und deswegen ist die Frage „Meins oder deins?" heute keine „doofe" Frage, sondern im Gegenteil eine sehr nützliche. Weil sie es ermöglicht, den Fokus darauf zu lenken, wer besitzt und wer nicht, und vor allem, wie beides miteinander zusammenhängt.

Diesen Zusammenhang benennen, auf den Immobilienmarkt gemünzt, Berliner Mieter*innen seit einiger Zeit äußerst geduldig und öffentlich wahrnehmbar. Zwischen 2008 und 2018 haben sich die Mieten – ganz anders als die Löhne – in der Hauptstadt fast verdoppelt. Nicht etwa, weil dies ein Naturgesetz ist, sondern weil es Profiteure gibt. Steigende Mieten sind konkrete Folge einer Kombination aus Privatisierung – also privater Aneignung öffentlichen Wohnraums und Bodens – sowie Spekulationsgeschäften großer Kapitaleigentümer*innen und Finanzunternehmen. Diese drängten nach der Krise 2008 auf der Suche nach profitablen Anlagemöglichkeiten aggressiv auf die Immobilienmärkte, weil die Zinsen niedrig waren und Profitraten in der Produktion schwächelten.

Der von der Berliner Initiative „Deutsche Wohnen und Co enteignen“ vorgeschlagene Weg aus dieser Situation findet inzwischen massenhaft Anklang. Er lautet: „Private Wohnungsgesellschaften, die mehr als 3000 Wohnungen besitzen, sollen nach Artikel 15 Grundgesetz enteignet und ihre Bestände in Gemeineigentum überführt werden. Die betroffenen Unternehmen sollen deutlich unter Marktwert entschädigt werden.“ Ganz bewusst beruft sich dabei die Initiative auf Artikel 15 und nicht etwa 14. Letzterer besagt, dass Eigentum verpflichtet und eine Enteignung „zum Wohle der Allgemeinheit“ zulässig ist. Er wurde schon mehrfach angewandt, um bspw. Privatgrundstücke für den Autobahnbau zu enteignen. Artikel 15 geht noch darüber hinaus. Dort heißt es, dass „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel zum Zwecke der Vergesellschaftung (…) in Gemeineigentum“ überführt werden können. Dies soll nun, wenn es nach der Mieter*innenbewegung geht, erstmalig in der Geschichte der Bundesrepublik mithilfe eines Volksbegehrens durchgesetzt werden. Schon jetzt haben die Aktivist*innen beachtlichen Druck entfalten können. Mitte Juni übergab die Initiative 77.000 Unterschriften, viel mehr als in der ersten Stufe eines Volksbegehrens nötig sind. Zudem reagierte der Berliner Senat und beschloss, ebenfalls Mitte Juni, einen Mietendeckel für fünf Jahre – die Mieten dürfen in diesem Zeitraum also nicht weiter erhöht werden.

Während Investor*innen sich über die sinkende „Attraktivität“ der Hauptstadt beklagen, haben sich zwei von drei Koalitionsparteien der rot-rot-grünen Landesregierung demonstrativ hinter das Volksbegehren gestellt: Zuerst die Linkspartei und im Mai auch die Grünen. Dass das Volksbegehren ans Allerheiligste – das Eigentum – geht, war für die FDP wiederum derartig alarmierend, dass sie eine Änderung des Grundgesetzes fordert. 

Ans Allerheiligste ging auch der Vorsitzende der Jungsozialisten (Jusos) Kevin Kühnert. Aus allen Ecken, besonders schrill aus seiner eigenen Partei, der SPD, erreichten Kühnert Anfeindungen. Dass er die DDR zurückwolle, gehörte noch zu den harmloseren Vorwürfen. Was war passiert? Anlässlich des Ersten Mai sprach die Wochenzeitung „Die Zeit“ mit Kühnert darüber, was für ihn „Sozialismus“ bedeute. Der 29-Jährige äußerte sich dazu ausführlich, aber nicht übermäßig radikal. Im Grunde verwies er auf Ideale, die einmal Selbstverständlichkeiten für die SPD waren. Etwa darauf, dass „in der Hand der Gesellschaft sein und demokratisch von ihr bestimmt werden soll“, was „unser Leben bestimmt“. Und er sagte, was in der folgenden Debatte mit Abstand am häufigsten zitiert werden sollte, nämlich, dass er die Kollektivierung von BMW erstrebenswert finde. „Die Verteilung der Profite muss demokratisch kontrolliert werden. Das schließt aus, dass es einen kapitalistischen Eigentümer dieses Betriebs gibt“, erläuterte Kühnert seine Haltung.


Die Reaktionen – Entrüstung, Begeisterung, „Sozialismusdebatte“ in der „Tagesschau“ – sind nur zu verstehen, wenn man Kühnerts Aussagen und die Mieter*innenbewegung zusammendenkt: Unter anderen Umständen hätte das Interview wohl wenig Aufmerksamkeit erhalten. Nun aber werden in Berlin ernsthaft Enteignungen in Erwägung gezogen, wird offen und laut über Eigentum geredet, andere Städte könnten nachziehen. In diesem Kontext ließen sich Kühnerts Äußerungen nicht einfach auf utopische Thesen reduzieren, wie es Teile der SPD-Führung versuchten. Stattdessen ermöglichte das Gesagte eine Erweiterung des Vorstellbaren, indem Kühnert bspw. darauf hinwies, dass eine Überführung von Privatbesitz in Gemeineigentum nicht nur – wie im Falle des Immobilienmarkts – ein Mittel der Notwehr sein könne, sondern auch eines, um die Wirtschaft zu demokratisieren. Er knüpfte damit an eine alte Debatte an, die jedoch nach Jahrzehnten neoliberaler Hegemonie fast in Vergessenheit geraten ist. Und deren Revival gerade jene, denen dieses Vergessen Handlungsspielräume eröffnete, gerne verhindern wollen.

Ein sehr deutsches Sprichwort besagt: „Über Geld spricht man nicht, man hat es.“ Für wohl kaum eine Phase des Kapitalismus ist das eine zutreffendere Zustandsbeschreibung als für die vergangenen vier Jahrzehnte. In diesen nämlich konnte sich die absurde Behauptung durchsetzen, dass jede*r seines*ihres Glückes Schmied sei. Klassen gebe es nicht mehr, hieß es – die Vokabeln Kapitalismus oder Arbeiter*in verschwanden aus dem Alltagswortschatz. Der Verweis auf die gescheiterten Sozialismusversuche tat sein Übriges dafür, zunächst jede Kapitalismuskritik und dann auch jeden Analyseversuch der Klassengesellschaft als überholt und ewiggestrig zu delegitimieren. „Heute spricht man nicht mehr von ‚Klassen‘, sondern von unterschiedlichen Gesellschaftsschichten. Dabei ist die Frage, wie viel Geld oder Eigentum jemand hat, nicht das einzige Merkmal, um die Position in einer Gesellschaft zu beschreiben“, heißt es bei der Bundeszentrale für Politische Bildung. Der Google Ngram Viewer zeigt deutlich: Seit einem Peak 1973 geht die Kurve, die anzeigt, wie häufig die Worte „Arbeiterklasse“ und „Kapitalismus“ in Büchern vorkommen, nur noch steil bergab.

Diese – auch sprachliche – Verschleierung der Verhältnisse bewirkte u. a., dass sich Lohnabhängige, selbst wenn sie unterdurchschnittlich verdienen und prekär beschäftigt sind, heute oft nicht mehr als solche definieren, sondern viel eher als gesellschaftliche „Mitte“, wie der Jenaer Industriesoziologe Klaus Dörre nachgewiesen hat. Eine weitere Folge ist, dass Armut in der Öffentlichkeit oft abfällig und als selbstverschuldet verhandelt, über Reichtum indes höflich geschwiegen oder er als wohlverdient dargestellt wird. Jede*r kennt Florida-Rolf. Aber wer kennt schon die Top Ten der Kapitalist*innen in Deutschland? Und wer lernt in der Schule, was ihre Vorfahren zwischen 1933 und 1945 gemacht haben?

Unter dem Mantel dieses Schweigens, der über den Kapitalismus gelegt wurde, konnte die Klasse der Besitzenden ihr Eigentum in den vergangenen Jahrzehnten weitgehend ungestört hegen und pflegen. Die Schere zwischen Arm und Reich hat sich so weiter geöffnet: In der Bundesrepublik verfügen heute zehn Prozent der Menschen über 55 Prozent des Vermögens. 50 Prozent der Bevölkerung wiederum gehört fast nichts: Diese untere Hälfte besitzt zusammen nur drei Prozent des Gesamtvermögens. Unterstützt wurde diese Entwicklung von der Politik, die – wie etwa die rot-grüne Regierungskoalition Anfang der Nullerjahre – Bedingungen dafür schuf, dass sich die Ausbeutungsbedingungen für deutsche Unternehmen deutlich verbesserten. So war eine Folge der unter Gerhard Schröder durchgeboxten Agenda 2010, dass Deutschland, um es mit den Worten des Exkanzlers zu sagen, „einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut (hat), den es in Europa gibt“.

Dass dies zusammengenommen nicht gerecht ist, dem würden die meisten Menschen wohl intuitiv zustimmen. Dass man, um etwas daran zu ändern, inzwischen nicht nur über „Mein“ und „Dein“ reden, sondern Eigentum infrage stellen kann, ist eine bemerkenswerte Entwicklung. Es gibt ein weiteres bekanntes Lied des Grips-Ensembles, in dem es heißt: „Einigen hilft alle Welt, doch den meisten fehlt das Geld, sie müssen dauernd kämpfen für ihr Recht.“ Die Mieter*innen machen genau das: Sie kämpfen für ihr in der Berliner Verfassung gebrieftes „Recht auf bezahlbaren Wohnraum“ – und berufen sich außerdem auf das gerade siebzig Jahre alt gewordene Grundgesetz. Einfach wird es nicht, dies durchzukämpfen. Denn nicht nur für die großen Immobilienkonzerne steht viel auf dem Spiel: Sollte die Bewegung Erfolg haben, wird sie sich nicht nur auf andere Teile der Bundesrepublik ausweiten. Dann könnten Vergesellschaftung und Wirtschaftsdemokratie auch in anderen Branchen massentauglich werden.



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