Neun von zehn Embryos mit Downsyndrom werden abgetrieben. Paul hingegen lebt.
Paul fixiert das Stehaufmännchen. Er bohrt die Fersen in den Unterarm der Physiotherapeutin, stößt sich ab und greift nach vorne - er will es haben, dieses blaurote Wackelding. Dazu muss er sich aufrichten und die Bauchmuskeln anspannen. Das strengt an. Trainerin Barbara Sailer-Kramer nickt. Der Paul - er macht das gut heut' morgen. Will was, und holt es sich. Ihre linke Hand, die Pauls Brust stützte, zieht sie weg. Starthilfe zu geben - das ist ihre Aufgabe. Arbeiten muss er selbst.
Freude, wenn Paul nach einem Spielzeug greift
Es ist 10 Uhr morgens in einer Gemeinschaftspraxis im Freiburger Rieselfeld. Silke Kohlmann ist mit ihrem sechs Monate alten Sohn regelmäßig hier. Paul hat Trisomie 21 - auch Downsyndrom genannt. Die 34-jährige Zeitungsredakteurin besucht die Physiotherapeutin einmal die Woche. Diese macht mit Paul Bewegungstherapie nach den Methoden von Vojta und Bobath. Die Behandlung hilft, die Muskelspannung zu stärken. Diese ist bei Kindern mit Downsyndrom nach der Geburt deutlich vermindert. Deshalb freut sich Silke Kohlmann, wenn Paul nach dem Spielzeug greift. Das ist Training. Und heute verläuft es in Pauls Sinne: So nah ist er an das Stehaufmännchen herangerobbt, dass er es mit den Lippen berührt. Das Wackelding - es bekommt erst mal einen Schmatz.
Ein paar Stunden später in Silke Kohlmanns Wohnzimmer. Paul kugelt auf einer Decke herum. Emma, Pauls dreijährige Schwester, ist noch im Kindergarten. Die Mutter kann in Ruhe über die Schwangerschaft sprechen.
Vor etwa einem Jahr geht Silke Kohlmann mit leicht gewölbten Bauch zur Frauenärztin. Es handelt sich um das erste Schwangerschaftsscreening. Die Ärztin bewegt das Ultraschallgerät langsam auf dem Bauch der Mutter. Beide Frauen schauen auf den Bildschirm. Was sie sehen, beunruhigt sie.
Die Nackenfalte ist sieben Millimeter breit, Werte bis 2,5 Millimeter gelten als unauffällig "Es sah schlimm aus", sagt Silke Kohlmann. Die Ärztin sagt, dass es ihr leidtue, aber dass da irgendwas nicht stimme. Panik steigt in Silke Kohlmann auf. Sie zwingt sich zur Ruhe. "Abwarten - du kannst jetzt nicht heulen, du musst Emma von der Tagesmutter abholen - das habe ich gedacht", sagt sie.
Steigt die Bereitschaft, ein Kind mit Trisomie 21 abzutreiben?
Am 21. März ist Welt-Downsyndrom-Tag. Weltweit machen sich die Menschen für die Anerkennung und das Öffnen für Menschen mit Downsyndrom stark. Das Datum - 21. 3. - ist kein Zufall. Die 21 steht für das 21. Chromosom, das sich bei der Zellteilung von Downsyndrom-Kindern in drei Teile, statt in zwei Teile splittet.
Eine Sprecherin des Deutschen Downsyndrom Infocenters sagt: "Neun von zehn Embryos, bei denen das Downsyndrom diagnostiziert wird, werden abgetrieben." In den vergangenen 15 Jahren stieg die Anzahl vorgeburtlicher Untersuchungen - wie die Fruchtwasseruntersuchung - stark an. Welche Folgen die zunehmende Akzeptanz nicht-invasiver Methoden - wie Bluttests - hat, ist noch nicht erforscht. Experten rechnen jedoch mit einer zunehmenden Bereitschaft, ein Kind mit Trisomie 21 abzutreiben. Im Vergleich zum Beginn der 70er-Jahre hat sich die Zahl der Neugeborenen mit Downsyndrom bereits halbiert.
"Es geht gar nicht, über einen Schwangerschaftsabbruch zu sprechen, jetzt wo ich ihn im Arm halte." Silke Kohlmann
Als sie von der Frauenärztin kommt, ist Silke Kohlmann durcheinander. Von unterwegs ruft sie ihren Mann an. René Habitzl, 37, arbeitet als Fernsehredakteur in Baden-Baden. Er macht sich sofort auf den Weg. Nebeneinander sitzen sie auf der Couch im Wohnzimmer. Silke weint. Hilflosigkeit steht im Raum. Noch am selben Nachmittag fährt das Paar zu einer Fachärztin für Feindiagnostik. In der Praxis gehen sie getrennt in das Gespräch. Einer bleibt bei Emma. Silke Kohlmann redet zuerst mit der Ärztin. Diese erklärt, dass es sich wahrscheinlich um eine Trisomie handelt. Trisomie 13 und 18 endeten oft tödlich für das Kind. Trisomie 21 bedeutet: Downsyndrom. Um welche der drei Trisomien es sich handle, könne sie noch nicht sagen. Darüber gebe die Fruchtwasseruntersuchung Aufschluss.
Paul zappelt auf seiner Decke. Silke Kohlmann bettet ihn auf den Schoß und beginnt, ihn zu stillen. Sie erzählt weiter.
Zu der Fachärztin sagt sie, dass sie ein Kind mit Trisomie 21 nicht abtreiben werde. Warum sie das so sicher weiß, kann sie selbst nicht erklären. Dass es das Arbeiten in einer Behinderteneinrichtung während des freiwilligen europäischen Jahres war, glaubt sie nicht. Gläubig sei sie auch nicht. "Es geht gar nicht, über einen Schwangerschaftsabbruch zu sprechen, jetzt wo ich ihn im Arm halte", sagt sie.
Wichtige Gespräche bei Freiburger Schwangerenberatung Donum Vitae
Als Nächstes spricht René mit der Ärztin. Von ihr erfährt er, was Silke Kohlmann ihm lieber persönlich gesagt hätte: Dass sie nicht abtreiben wird, im Fall einer Trisomie 21. Angst haben beide. Zur Fruchtwasseruntersuchung sind es da noch drei Wochen hin. 21 Tage voller Fragen und Sorgen. Welche der Trisomien ist es? Was würden sie aufgeben müssen? Silke Kohlmann kommt der Gedanke, ein Kind auszutragen, das kurz nach der Geburt sterben könnte, unerträglich vor. René fragt sich, was ein behindertes Kind für ihr gemeinsames Leben bedeuten wird. "Silke war relativ schnell klar, dass sie das Kind will. Sie kannte auch schon Kinder mit Downsyndrom. Ich nicht", sagt er. "Ich habe zu ihr sicher auch verletzende Sätze gesagt an diesem Abend", sagt er.
Das Paar wendet sich an die Freiburger Schwangerenberatung Donum Vitae. "Bei der Beraterin konnten wir erstmals über Themen sprechen, über die wir beide bis dahin geschwiegen hatten", sagt Kohlmann. Darüber, wie ein Schwangerschaftsabbruch abläuft und was die verschiedenen Trisomien bedeuten.
Dann der Tag der Fruchtwasseruntersuchung und drei Tage später die Nachricht, dass das Kind Trisomie 21 hat. "Ich war erleichtert. Sehr erleichtert", sagt Silke Kohlmann. Davor und danach gab es noch einige heikle Momente in dieser Schwangerschaft. Gespräche zwischen ihr und ihrem Mann, der Moment, als das Paar es den eigenen Eltern erzählte und der Zeitpunkt, als sie zwei befreundete Paare informierten, die ebenfalls ein Kind erwarteten.
Neun von zehn werden abgetrieben
Nachdem die Gewissheit da war, besucht das Paar eine Familie mit einem zweijährigen Sohn mit Trisomie 21. "Der Kleine hat Renés Hand genommen und den Rest des Nachmittags nicht mehr losgelassen", sagt Kohlmann. Diese Begegnung sei wichtig gewesen.
Es gab sehr viele Menschen, die dem Paar geholfen haben. Familie, Freunde, andere Eltern, die auch Kinder mit Downsyndrom haben. "Die Hebamme meinte: Der Kleine hat da drin alles, was er braucht", sagt die Mutter. So sei sie zunehmend ruhiger geworden.
So langsam reicht es Silke Kohlmann jedoch mit den Fragen über diese Zeit der Unsicherheit. Sie will etwas anderes erzählen. Davon, wie sie ihren kleinen Jungen nach der Geburt zum ersten Mal auf den Bauch gelegt bekam. "Da war gar keine Distanz. Gar kein Befremden", sagt sie. Einfach pure, bedingungslose Liebe. Als sie ihn nach fünf Tagen von der Intensivstation mit nach Hause nehmen durfte, sah Emma ihren Bruder zum ersten Mal.
"Es ist einfach schön zu sehen, wie er sich entwickelt." René Habitzl
"Wir saßen alle drei um Pauls Wiege", sagt Silke. Eineinhalb Monate später lächelt Paul seine Mutter zum ersten Mal an. "Ganz fein und zaghaft". Dann kamen die Verwandten, die Freunde. "Alle sind vernarrt in ihn", sagt Silke. Emma sei anfangs richtig eifersüchtig gewesen. Die Mutter lacht, wenn sie daran denkt. "Es ist einfach schön zu sehen, wie er sich entwickelt", sagt der Vater. Mit dem Wissen, das er heute hat, kann er nicht verstehen, dass viele der Kinder abgetrieben werden. Klar, sie haben sich Sorgen gemacht: Wird Paul Herzprobleme oder Krampfanfälle bekommen? Doch in dem Moment, in dem Silke Kohlmann ihren Sohn im Arm hielt, waren die Zweifel weg. "Es hat sich entspannt und natürlich angefühlt", sagt sie. René war bei der Geburt dabei. Um 1 Uhr nachts setzten die Wehen ein. Ein paar Stunden später griff Paul zum ersten Mal nach dem Finger des Vaters. Elternglück eben.
Trisomie 21 ist eine Genom-Mutation, bei der das gesamte 21. Chromosom oder Teile davon dreifach vorliegen (Trisomie). Menschen mit Trisomie 21 - auch Downsyndrom genannt - weisen typische Merkmale wie beispielsweise mandelförmige Augen auf, weshalb sie früher auch als Mongoloide bezeichnet wurden. Die kognitiven Fähigkeiten dieser Menschen sind beeinträchtigt. Viele lernen jedoch lesen und schreiben, da es gute Fördermöglichkeiten gibt.
Autor: Nadine Zeller
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