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Rezension

Nicht nur Narben auf der Haut

Der Tessiner Regisseur Niccolo Castelli hat Lara Gut nach ihrem Kreuzbandriss begleitet. Entstanden ist unweigerlich eine sanfte Kritik am Spitzensport – und eine kleine Montage des Leidens.

https://www.tagesanzeiger.ch/sport/wintersport/Nicht-nur-Narben-auf-der-Haut/story/23229714


  Sie verdichten sich, die Vorboten für das Leid. Pauli Gut zeichnet etwas in den Schnee. «Hier früher aufmachen, da später bremsen», man erkennt wenig, auch Lara Gut scheint ratlos. Die beiden stehen am Hang, um sie herum tobt der Sturm, es ist schwierig, einander zu verstehen, in diesen Tagen vor der Ski-WM 2017 in St. Moritz. Der Vater und seine Tochter. Der Trainer und seine Athletin. Ein paar Tage später liegt sie im Schnee. Ein kleines Malheur beim Einfahren, Schmerzen, Abbruch. Der Tessiner Regisseur Niccolo Castelli hatte sich mit seiner Kamera aufgemacht, das Universum Gut zu erkunden. Er reiste der Rennfahrerin hinterher, im Training bis nach Feuerland, im Wettkampf bis nach Kanada, und an der WM in St. Moritz vor einem Jahr, dort sollte alles zusammenkommen. Dort, wo Gut ihr erstes Rennen und später den Super-G-Weltcup gewonnen hatte, sollte dieser Film dokumentieren, wie die grösste Medaillenhoffnung des Schweizer Frauenteams an ihrem Lieblingsberg zu Gold fährt. Es kam anders. Guts Kreuzband riss, ein grosser Aufschrei, danach die grosse Leere. Castelli und seine Kamera blieben bei ihr. Gestern Abend wurde der Film im Schweizer Fernsehen zum ersten Mal gezeigt, im Frühling folgt eine längere Kinoversion. Entstanden ist unweigerlich eine kleine Montage des Leidens. Lara Gut im Spitalbett, der Arzt lächelt, sie nicht. Lara Gut im Schwimmbecken, die Lippen zusammengepresst vor Schmerzen. Lara Gut beim Physiotherapeuten, der ganze Oberschenkel blau. Castelli erzählt, ohne zu sprechen, das tun seine Bilder, seine Figuren, und nach und nach gesellt sich im Film zur Athletin Gut eine zweite Hauptperson hinzu: der Mensch Gut.

Narbenschau am Ammersee
Der Mensch Gut sitzt zum Beispiel in einer Wohnung in Lugano, draussen ist Frühling, drinnen herrscht Stillstand, auf dem Tisch ein Puzzle, zu erkennen ist der Big Ben in London. Zeit hat sie jetzt viel. Mit einer ihrer Krücken angelt sich Gut vom Sofa ihren Rucksack. Und der Mensch Gut liegt am Ammersee in Bayern, daneben Anna Veith, eine der besten Freundinnen im Skizirkus, auch sie stand mal ganz zuoberst, auch sie lag mal unter dem Messer. Die beiden vergleichen Narben an ihren Beinen, sie lachen, aber fast scheint es, als verglichen sie nicht nur Spuren auf der Haut. «Je näher du an die Spitze kommst, desto weniger Leute verstehen dich wirklich», sagt Lara. «Ging mir ähnlich», sagt Anna. «Und weisst du», sagt Lara, die Sonne blitzt jetzt flach über den Ammersee, «die grosse Kugel war so ein Theater für alle. Aber das interessiert mich nicht. Ich möchte einfach Rennen gewinnen.» Nach ihrem Triumph im Gesamtweltcup 2016 war Gut auf der Spitze ihrer Popularität angelangt. Plötzlich wollten nicht nur viele, sondern alle etwas von ihr, Gut versuchte, sich zu schützen – aber auch im oberflächlichen Medienzirkus rund um den Sport versucht sie oft, noch tiefgründig zu sein. Das sei ihr auch ein bisschen zum Verhängnis geworden, sagte Regisseur Castelli in einem Interview mit der «NZZ am Sonntag», «es kostet viel Energie». Irgendwann sagt sie: «Nach dem Kreuzbandriss habe ich mich wie ein Mensch gefühlt. Das letzte Mal, als ich mich so gefühlt habe, da war ich 18.»

Ein Glucksen, dann ein Lachen
205 Tage nach dem Unfall steht Lara Gut in Zermatt wieder auf den Ski. Auf dem Gletscher tobt ein Herbststurm, die Sicht reicht kaum zehn Meter weit. Gut fährt los, lehnt sich zaghaft in die ersten Schwünge, die Kamera fährt mit, ganz langsam. Man hört nur das Knirschen der Schuhe, dann ein Glucksen, ein Lachen. In Gut geht die Sonne auf, unten fällt sie ihrem Vater in die Arme, dem Physiotherapeuten um den Hals. Im ganzen Film, der sie ja vor allem beim Leiden begleitet hat, ist sie nie so gelöst und befreit wie in diesen ersten Minuten im ewigen Schnee in Zermatt. Es scheint, als ob ihr die Verletzung auch etwas zurückgeben konnte, etwas, das sich weder im Knie noch auf den Ski abspielt. «Viel zu oft setzt dich das Ziel unter Druck», sagt Gut aus dem Off, im Vordergrund peitscht sie ihr Trainer vor dem Speed-Comeback in Lake Louise vergangenen September an, «du musst höher raus. Wie eine Bestie, vai!». Hier dringt durch, was der Filmemacher aus dieser atypischen Heldengeschichte mitnimmt, was aus der Welt des Spitzensports mitkommen und was besser dort bleiben kann. Es bleibt ein Satz, der Lara Gut womöglich auch in neun Tagen motivieren wird, wenn sie im südkoreanischen Jeongseon um Super-G-Gold fährt. «Ich will die Hindernisse überwinden, ohne dass sie mich einnehmen.»