Moritz Jacobi

Journalist, Brandenburg (Havel), Brandenburg, Deutschland

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Artikel

Kinder trauern in Pfützen

Brandenburg/H. Am liebsten hätte Carlotta ihren Papa noch mal richtig doll gedrückt. Als die heute Zwölfjährige vor neun Jahren ihren Vater bei einem tragischen Unfall verliert, ist ein richtiger Abschied aber nicht mehr möglich. „Ich habe meiner Tochter erklärt, dass ihr Papa nicht mehr vom Tauchen zurückkehrt“, erinnert sich ihre Mutter Nadine Pohl. „Aber ich war selbst traumatisiert, trug unser zweites Kind im Bauch und bin schnell an meine Grenzen gekommen, wenn es darum ging, mit Carlotta darüber zu reden.“


Die damals 29-Jährige erkennt bald, dass Mutter und Tochter mit der Situation überfordert sind. Denn wer einen geliebten Menschen verliert, ist von der Trauer oft wie gelähmt, zu klaren Gedanken nicht imstande und bemüht, zu funktionieren, den Alltag irgendwie zu überstehen. Über die Björn-Schulz-Stiftung am Altstädtischen Markt kommt Carlotta schließlich in Kontakt mit Kindern, die ebenfalls Angehörige verloren haben oder deren Geschwister unheilbar erkrankt sind.


Aufklärung über Sterben, Tod und Abschiednahme

In den eigens für Kinder konzipierten Trauergruppen der Stiftung geht es mitnichten immer nur traurig zu. Oft werden Spiele gespielt, gemeinschaftliche Rituale befolgt oder einfach zusammen gelacht und Quatsch gemacht. Wer über seine Trauer sprechen möchte, redet.

Andere beobachten oder sind froh, der bedrückenden Stimmung bei sich zu Hause für ein paar Stunden zu entgehen. Trauerbegleiterinnen wie Birgit Graßnick-Popiak und Heike Scherfke klären sie auf behutsame Art darüber auf, was es mit dem Sterben auf sich hat.


Denn wenn der Verlust bleischwer auf der Familie lastet, bleiben Kinder und Jugendliche mit ihren Fragen und Ängsten häufig allein oder werden vor den Ereignissen abgeschirmt. „Dabei sind gerade Kinder sehr neugierig und dem Thema gegenüber aufgeschlossen“, weiß Birgit Graßnick-Popiak, die zahllose Familien durch Trauerphasen begleitet hat. „Leider leben vor allem wir Erwachsene unsere Trauer nicht aus, leiden selbst unter mangelnder Aufarbeitung oder einem fehlenden Abschiednehmen in unserer Vergangenheit.“


Häufiger Fehler: nicht über den Tod reden

Das Schlechteste, was man mit Kindern in einer Trauersituation machen kann: nicht darüber zu reden. Vielmehr raten Experten, den Nachwuchs ehrlich über die Situation ins Bild zu setzen. „Denn eigentlich ist der Tod auch für Kinder durchaus präsent“, weiß Nicole Gratz von der Agentur Kinderzeit. „Vor allem kleinere Kinder unterscheiden noch nicht deutlich zwischen dem Sterben in Märchen, Filmen, in den Nachrichten und der Realität.“ Auch mit Trauer sollten Kinder lernen umzugehen.


Weil aber in der Welt der Erwachsenen der Tod und das Sterben an den Rand des gesellschaftlichen Lebens verdrängt und damit zur individuellen Angelegenheit eines jeden Einzelnen geworden sind, sei das Reden darüber ebenso wie das Miteinander-Trauern nichts, worin viele Eltern ihren Kindern ein gutes Vorbild wären. „Wenn mir als Kind aber niemand erklärt, was in der Familie gerade vor sich geht, entstehen Ängste und Vorbehalte, die ich später als Erwachsene übernehme.“


Pädagogin Gratz rät, stattdessen der Trauer ihren Raum zu geben und sie gemeinsam zu verarbeiten. Sprachliche Fallstricke gilt es zu vermeiden. Rhetorische Krücken wie etwa das „Einschlafen“ oder „Fortgehen“, die uns das Reden erleichtern, verstehen Kinder oft wörtlich – und sind der Aufklärung eher hinderlich. „Man sollte die Dinge klar benennen, sonst droht später ein Vertrauensverlust in die Eltern“, mahnt Nicole Gratz. Oder wie es Birgit Graßnick-Popiak formuliert: „Lieber Böses wissen als Böses ahnen.“


Die Sache mit dem Sterben: Kinder schon im Vorfeld aufklären

Idealerweise sollten Eltern nicht warten, bis ein Todesfall eintritt, sondern ihre Kinder auch ohne konkreten Anlass vorsichtig über den Tod aufklären. „Man kann mit dem Kind einmal über den Friedhof gehen, die Vorgänge des Sterbens in der herbstlichen Natur erklären oder ein altersgerechtes Kinderbuch lesen“, sagt Nicole Gratz. „Man sollte sich die Bücher jedoch vorher genau ansehen. Es macht einen Unterschied, ob ich religiös oder atheistisch bin und über welche Todesursache man spricht.“


Auch der geistige Entwicklungsstand bestimmt mit, wie Kinder den Tod wahrnehmen. Kinder unter fünf Jahren etwa haben kaum eine Vorstellung von Endgültigkeit, aber große Angst vor dem Verlassenwerden. Ab dem sechsten Lebensjahr verstehen die meisten, dass es verschiedene Todesursachen gibt, und zeigen Interesse an damit verbundenen Dingen wie beispielsweise Friedhöfen. Dass auch sie selbst einmal sterben werden, verinnerlichen Kinder um das achte Lebensjahr herum.


Entsprechend richten sich auch die kindlichen Gedanken nicht mit der gleichen Ausdauer eines Erwachsenen auf die Trauer. Im einen Moment sind sie traurig und stellen Fragen nach dem Verstorbenen, im nächsten Moment spielen sie wieder. Nicht selten äußert sich die Trauer auch in kurzen Wutausbrüchen. Experten verwenden dafür gern ein Sinnbild: Erwachsene trauern im Fluss, Kinder in Pfützen.


Picknick auf dem Friedhof und bunt bemalte Urnen

In der kreativen Beschäftigung können sich Kinder anschaulich und dinglich mit dem Sterben auseinandersetzen. „Wir malen Bilder für die Verstorbenen und haben auch schon Urnen bunt koloriert“, erzählt Heike Scherfke. „Die meisten Bestatter arrangieren auf Wunsch sogar die Bemalung des Sargs durch die Kinder.“

Viele wünschen sich, den Verstorbenen mit eigenen Augen zu sehen. Der Anblick eines friedlich und ohne Schmerzen da liegenden Angehörigen kann beruhigend sein.


Gerade bei Beerdigungen empfinden viele Kinder während langer Trauerreden und Beileidsbekundungen irgendwann Langeweile. Oder alles geht viel zu schnell und es bleibt kaum Zeit für den Abschied. Heike Scherfke weiß, dass es auch anders geht. Die Brandenburgerin erinnert sich an eine Beisetzung, bei der gleich mehrere Kinder mit kleinen Aufgaben in das Prozedere einbezogen wurden und beispielsweise den Sand in das Grab schaufeln konnten.


Nach der Beisetzung helfen kleine, gemeinsam ausgedachte Rituale den Kleinen, das Gedenken an den Verstorbenen mit positiven Gefühlen zu verbinden. „Zum 40. Geburtstag meines verstorbenen Mannes haben meine Töchter und ich ein Picknick auf dem Friedhof gemacht“, erinnert sich Nadine Pohl. „Sie fanden es toll.“


Zudem sollten Eltern ihren Kindern keine Vorstellungen davon überhelfen, was nach dem Tod mit Verstorbenen passiert. „Das verträgt sich nicht immer mit der Fantasie des Kindes“, sagt Nicole Gratz, die zu dem Thema auch Workshops für Eltern und Erzieher leitet. Dass die Großmutter nach dem Tod über ihn wacht, kann für den Enkel auch gruselig sein. „Lieber soll sich das Kind seine eigene Vorstellung machen, die man auch so stehen lassen sollte.“


Trauerarbeit kann Jahre dauern

Zwar geht die Theorie davon aus, dass es ein halbes bis dreiviertel Jahr dauert, um eine intensive Trauer zu verarbeiten. „Aber oftmals ist die Trauer bei den Kindern im zweiten Jahr viel schlimmer als im ersten,“ weiß Birgit Graßnick-Popiak. „Manche Kinder denken, sie müssten Mama oder Papa zur Aufheiterung stolz machen, und zeigen dann zunächst ganz vorbildliches Verhalten.“ Die Verhaltensauffälligkeiten treten dann verzögert auf.


Und Carlotta? Die hatte viele Jahre Zeit um ihre Trauer zu verarbeiten. Die Zeit mit der Trauergruppe hat ihr gut getan. Und dennoch grübelt sie heute, mit Beginn der Pubertät, wieder häufiger über das Erlebte nach, hegt Verlustängste um ihre Mama. „Vielleicht besucht sie einfach noch mal die Teenager-Gruppe in der Björn-Schulz-Stiftung“, sagt Nadine Pohl. Die 38-Jährige ist heute selbst als Familienbegleiterin für die Stiftung tätig.

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