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Islamist in Hamburg: Der Extremist

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Im entscheidenden Moment ihres Einsatzes müssen die Polizisten improvisieren. Zu sechst stehen sie am 28. April 2021 im Treppenhaus eines Mehrfamilienhauses im Hamburger Osten. Auf ihr Klingeln und Klopfen reagiert niemand, sie hören aber, wie sich jemand in der Wohnung bewegt, so schildern sie es später. Um Türen aufzubrechen, werde im Normalfall die hinzugezogen, wird einer der Polizisten vor Gericht aussagen. Aber die Beamten wollen nicht warten, vielleicht ist es ja noch nicht zu spät. Eine Anruferin hatte ein mögliches Verbrechen gemeldet: Ein Mieter soll seine Frau getötet haben.

Einer der Beamten tritt gegen die Wohnungstür, bis das Schloss nachgibt; von innen brüllt eine Männerstimme, die Polizisten hätten keine Befugnis, die Wohnung zu betreten, sie stünden ja nur im Dienst einer von den Eliten gesteuerten GmbH.

Hinter der Tür steht ein bärtiger Mann im Pyjama. Unsanft bringen ihn die Polizisten zu Boden, dann durchsuchen sie die Wohnung. Auf dem Boden: ein großer Blutfleck. An einer Wand: eine mit Filzstift beschriebene Pappe, darauf steht: "Der Tempel Satans tat sich mit den Reptiloiden zusammen". Daneben weitere Pappen, mehrere Korane und islamische Lehrbücher, auf dem Wohnzimmertisch: ein Beutel mit Marihuana, ein Bündel Bargeld, auf dem Boden ein Computer, auf dem die Kommunikations-App Telegram geöffnet ist. In der Küche: ein Messerschärfer, daneben eine abgebrochene Klinge. Und in der Badewanne der nackte Körper einer Frau. Mit erkennbar "nicht mit dem Leben zu vereinbarenden Verletzungen", wie es in der Ermittlungsakte heißt. Sie wurde getötet, daran besteht kein Zweifel.

Der Anblick der Frau habe ihm viel abverlangt, wird einer der Polizisten aussagen.

Der Täter ist ihr Ehemann, der bärtige Mann im Pyjama. Um ihn und seine Familie zu schützen, soll er in diesem Text Thomas F. heißen. Auch die Namen aller anderen Beteiligten sind verfremdet.

Die Grausamkeit der Tat lässt alle Betroffenen, Bekannte, Angehörige, wie auch die Polizisten mit Fassungslosigkeit zurück. Sie fragen sich: Was trieb Thomas F. dazu? Auf den ersten Blick scheint es offensichtlich: Es ist die Tat eines Extremisten, eines Islamisten, eines Verschwörungsgläubigen. Erst nach vielen Wochen in Untersuchungshaft verdichten sich die Hinweise, dass es auch die Tat eines psychisch Kranken ist.

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Eines aber war Thomas F. nicht: einsam. Es gab Freunde und Angehörige, die seinen Zustand erkannten, die alarmiert waren und Hilfe suchten - vergeblich. Und so stellt sich neben der Frage, wie diese Tat geschehen konnte, noch eine zweite: Warum konnte sie niemand verhindern?

Die Recherche für diesen Text erstreckt sich über mehr als neun Monate. Sie besteht vor allem aus Gesprächen, viele davon mit Anhängern verschiedener Milieus, die keinen Kontakt mit Journalisten wünschen. Aber auch mit Freunden, Weggefährten, Kollegen und Angehörigen des Täters wie auch des Opfers sowie mit Juristen und Medizinern. Und auch: mit dem Täter selbst. Zur Recherche gehörte auch das Studium unzähliger Akten, Briefe, Studien, Chatnachrichten und Verschwörungsvideos. So unvollständig und widersprüchlich die Informationen auch sein mögen: Sie geben einen Eindruck eines Mannes, der im Lauf seines Lebens immer stärker aus der Normalität gekippt ist - mit fatalen Folgen.

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