Bruder Abraham ist angeklagt, weil er einen jungen Mann aus dem Gazastreifen in seiner Abtei aufgenommen hat. Jetzt entscheidet das Bayerische Oberste Landesgericht - und könnte ein wichtiges Urteil zum Kirchenasyl fällen.
Noch eine Woche bis zum Prozess. Franz Bethäuser sitzt in seinem Anwaltsbüro in einem Münchner Mehrfamilienhaus. Dort hat alles seine Ordnung: Im Regal reihen sich juristische Fachzeitschriften, gesammelt und gebunden seit 1978. Zwei Designerschränke sind alphabetisch mit Akten gefüllt. Bethäuser zieht eine Mappe heraus. »Urteil« steht auf der ersten Seite. Es folgen 21 Seiten, auf denen man die Geschichte von Bruder Abraham Sauer lesen kann.
Vor eineinhalb Jahren hatte der Benediktinermönch einen jungen Mann aus dem Gazastreifen in seiner Abtei aufgenommen, um dessen Abschiebung zu verhindern. Kein Härtefall, entschied das Bamf. Dennoch wurde das Kirchenasyl nicht beendet – und Bruder Abraham landete auf der Anklagebank. Das Amtsgericht sprach ihn frei. Im Revisionsverfahren verhandelt an diesem Freitag das Bayerische Oberste Landesgericht, ob sich Bruder Abraham strafbar gemacht hat.
Seit Jahren wird über das Kirchenasyl gestritten. Die kirchliche Tradition, Flüchtlinge zu beherbergen, kollidiert mit dem staatlichen Asylrecht. Doch nur in Bayern gebe es eine solche Strafverfolgung, sagt Dieter Müller von der Ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft »Asyl in der Kirche«. Er spricht von »massenhaften Ermittlungen mit einer Systematik, die niemanden ausgelassen hat«.
Dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) wurden seit August 2016 deutschlandweit 5400 Kirchenasyle gemeldet. Mehr als 90 Prozent sind sogenannte Dublin-Fälle: Asylbewerber, die erstmals in einem anderen EU-Staat registriert wurden, müssen dort das Asylverfahren durchlaufen, Deutschland kann sie dorthin zurückschicken.
Berichte über Gewalt und Verhaftungen
Kritiker bemängeln jedoch unzumutbare Bedingungen für Asylbewerber in einigen EU-Staaten. Bei dem Mann, dem Bruder Abraham Schutz gewährte, war Rumänien für das Asylverfahren zuständig, wo nach Angaben von »Matteo – Kirche und Asyl« etliche Missstände dokumentiert sind. Der Flüchtlingshilfeverein forderte im Januar, Abschiebungen nach Rumänien zu stoppen, und legte Berichte von Geflüchteten über Gewalt, Verhaftungen und unmenschliche Unterbringungen in Gefängnissen vor.
Rechtsanwalt Bethäuser kennt solche Fälle gut, er arbeitet seit rund 40 Jahren im Asyl- und Migrationsrecht. Im Amtsgericht Kitzingen hat er im April 2021 einen Erfolg errungen. Im Sitzungssaal 102 – an der Wand ein weißes Kreuz – hatte die Staatsanwaltschaft eine Geldstrafe von 2400 Euro für Bruder Abraham gefordert – wegen Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt. Doch das Gericht sprach ihn frei.
»Herr Sauer handelte ohne Schuld«, erklärte die Richterin in ihrem Urteil. Sie sah den Gewissenskonflikt: sich zwischen Rechtstreue und der eigenen Überzeugung entscheiden zu müssen. Ein Ende des Kirchenasyls, wie es das Bamf forderte, hätte möglicherweise die Abschiebung nach Rumänien bedeutet. Den Freispruch leitete sie schließlich aus dem Grundrecht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit ab.
Rechtsanwalt Bethäuser: Das Gewissen sei nicht nur eine innere Überzeugung, sagte er, »ich muss das auch leben, praktizieren und umsetzen können« Foto: Carolin Gißibl
Das Urteil schlug Wellen. Die Staatsanwaltschaft legte Revision ein. Fünf Wochen später urteilte ein Richter in einem anderen Kirchenasylfall: »Wir leben in einer Demokratie, nicht in einem Gottesstaat.«
Franz Bethäuser sagt, dass die beiden großen Kirchen professionell arbeiteten. Viele Anfragen von Geflüchteten würden abgelehnt, jeder Einzelfall werde sorgfältig geprüft. Und er beruft sich, wie auch die Richterin, auf das Bundesverfassungsgericht. In einer Entscheidung von 1971 heißt es: Bei extremen Gewissenskonflikten könne es sein, dass das Strafrecht dem Grundrecht auf Glaubensfreiheit weichen müsse.
»Das ist frustrierend«
Eigentlich hatten sich die Kirchen schon 2015 mit dem Bamf auf ein konkretes Verfahren geeinigt: Das Kirchenasyl bei Dublin-Verfahren wird toleriert, wenn jeder Fall sofort gemeldet wird. Dann müssen die Kirchen ein Dossier mit Begründung liefern. Auf dieser Basis prüft das Bamf, ob ein individueller Härtefall vorliegt. Kommt die Behörde zu diesem Schluss, übernimmt Deutschland freiwillig das Asylverfahren. Fällt die Härtefallprüfung negativ aus, müssen die Asylbewerber das Kirchenasyl binnen drei Tagen verlassen.
Dieses Verfahren habe das Bamf ausgehebelt, klagen die Kirchen. 2021 betrachtete das Bamf nur 1,7 Prozent als Härtefall, im Jahr 2016 hatte die Quote noch bei 36,7 Prozent gelegen. Ein Sprecher führt diesen Rückgang darauf zurück, dass tatsächliche Härtefälle bereits im regulären Dublin-Verfahren identifiziert würden. Kritiker vermuten hingegen einen restriktiveren Kurs im Bamf. »Wir fragen uns, warum wir eigentlich noch Dossiers einreichen«, sagt Dieter Müller von der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirchenasyl. »Das ist frustrierend.«
Als die Zahl der Kirchenasyle nach 2015 stark zunahm, wurden auch mehr Ermittlungen gegen Geistliche in Bayern eingeleitet. Nur: Die Staatsanwaltschaften gingen nicht einheitlich vor. Nach SPIEGEL-Informationen forderte das Justizministerium schließlich die drei Generalstaatsanwaltschaften auf, eine gemeinsame Linie zu definieren. Entgegen vielen Gerüchten sei die politische Spitze dabei nicht eingebunden gewesen, bestätigen Beteiligte dem SPIEGEL. Es sei vielmehr um eine einheitliche Strafverfolgung gegangen. Er habe dazu keine inhaltliche Weisung gegeben, betont auch der ehemalige Justizminister Winfried Bausback.
Das Ergebnis der Gespräche war ein Dreistufenplan: Beim ersten Kirchenasyl sollten die Ermittlungen wegen Geringfügigkeit eingestellt werden, beim zweiten Mal nur noch gegen Geldauflage. Im Wiederholungsfall sollte ein Strafbefehl beantragt werden. Nach einem Urteil des Oberlandesgerichts München wurde die Vereinbarung 2018 überarbeitet. Die Kirchen genössen keine »Sonderrechte«, so steht es in der Urteilsbegründung. Geistliche seien vor Strafverfolgung geschützt, wenn sie sich an die Vereinbarung mit dem Bamf hielten.
Doch in den letzten drei Jahren sei das Votum der Behörde bei negativer Härtefallprüfung in über 90 Prozent der Fälle ignoriert und das Kirchenasyl nicht beendet worden, teilt ein Bamf-Sprecher mit. Die Polizei verzichtet dennoch in der Regel darauf, Geflüchtete aus Kirchen und Klöstern zu holen – und damit das staatliche Gewaltmonopol konsequent durchzusetzen.
In Bayern registrierte das Bamf 2017 bis 2021 fast 900 Kirchenasylfälle. Seit August 2017 wurden laut Justizministerium 437 Ermittlungsverfahren gegen Kirchenangehörige neu eingeleitet, 43 waren es im letzten Jahr. Trotz des strengen Dreistufenplans werden aber nur selten Strafbefehle ausgestellt. Nach SPIEGEL-Recherchen sind bislang nur neun Fälle öffentlich bekannt. »Wir haben mit viel mehr Strafbefehlen gerechnet«, heißt es aus der Spitze der evangelischen Kirche. »Rein vom Zahlenwerk ist das so nicht zu verstehen«, sagt auch ein Staatsanwalt, der an der einheitlichen Linie zweifelt.
Kritik äußert auch der Strafrechtsprofessor Matthias Jahn aus Frankfurt am Main. Das Justizministerium suggeriere, den Staatsanwaltschaften seien die Hände gebunden. Die Ermittlungen seien zwingend. Jahn nennt das eine »Schutzbehauptung«, denn Ermittlungen führten nicht automatisch zur Anklage. Es bleibe ein Spielraum, den die Staatsanwälte nutzen könnten – gerade bei geringfügigen Vergehen. Weder aus dem Gesetz noch den bisherigen Urteilen könne eine extensive Strafverfolgung abgeleitet werden.
Das Bayerische Oberste Landesgericht soll nun für mehr Rechtsklarheit sorgen. Bruder Abraham hofft, ohne Strafe davonzukommen. Vor dem Amtsgericht hatte sein Verteidiger Franz Bethäuser ein leidenschaftliches Plädoyer gehalten: Das Gewissen sei nicht nur eine innere Überzeugung, sagte er, »ich muss das auch leben, praktizieren und umsetzen können«.
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