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Streit der Gerichte

Erstmals hat sich das Bundesverfassungsgericht gegen den Europäischen Gerichtshof gestellt - und damit in Brüssel ein Beben ausgelöst. Symbolbild

Im vergangenen Jahr legte sich das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) offen mit dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) an. Die Bundesregierung bemüht sich seitdem, zu beschwichtigen. Doch der Streit ist fundamental.

In einem Urteil über ein Anleiheprogramm der Europäischen Zentralbank nannte das Verfassungsgericht eine Stellungnahme des EuGH "objektiv willkürlich". Die Karlsruher Richter setzten sich daher über das Votum des Gerichtshofs hinweg - ein Tabubruch.

EU leitet Strafverfahren gegen Deutschland ein

"Das letzte Wort zu EU-Recht wird immer in Luxemburg gesprochen. Nirgendwo sonst", wetterte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Im Juli leitete sie ein Strafverfahren gegen Deutschland ein. Das Dilemma jedoch bleibt: Es streiten sich zwei Gerichte, die beide jeweils die höchste Autorität für sich beanspruchen - und jetzt? Politiker und Juristen diskutieren über vier mögliche Szenarien:

I. Die Klage

Die EU-Kommission könnte das Strafverfahren gegen Deutschland fortsetzen: Am Ende müsste der EuGH - selbst Streitpartei - in eigener Sache urteilen und entscheiden, ob das Verfassungsgericht EU-Recht verletzt hat.

Und dann? Experten glauben nicht, dass Karlsruhe einfach einknickt. Das Urteil baue auf einer langen Tradition auf: Schon seit dem Vertrag von Maastricht behält sich das BVerfG im Europarecht Kontrollrechte vor - letztlich um das Grundgesetz zu schützen. Der EuGH lehnt das ab und beansprucht die alleinige Autorität. Thu Nguyen, Juristin am Jacques Delors Centre, sagt: "Das ist ein Konflikt, der schon seit Beginn der europäischen Rechtsordnung besteht."

Sacha Garben vom College of Europe rät der Kommission, keine Klage gegen Deutschland zu erheben. "Das Verfahren fortzusetzen, würde das Gericht und alle EU-Institutionen nur dazu zwingen, ihre Positionen zu verhärten", prophezeit die Professorin für Europäisches Verfassungsrecht.

II. Der Dialog
Um das Dilemma zu lösen, setzen viele Experten auf einen "Dialog" zwischen den Gerichten. "Richterliche Zusammenarbeit war immer ein zentrales Merkmal der europäischen Rechtsarchitektur", erklärt Garben.

Dabei können auch neue Urteile eine Form des Dialogs sein - ohne direkt miteinander zu sprechen. Ein anderer Weg: inoffizielle Gesprächsrunden, bei denen beispielsweise auch Beamte der EU-Kommission oder Parlamentarier mit am Tisch sitzen könnten.

Nguyen schlägt vor: Das BVerfG könnte den EuGH künftig mehrmals konsultieren, wenn es mit einem Votum aus Luxemburg nicht einverstanden ist. Das wäre die Chance, dass sich die Gerichte - Schritt für Schritt - annähern. "Dialog geht in beide Richtungen," betont der EU-Parlamentarier Sergey Lagodinsky. Natürlich gelte der Vorrang des europäischen Rechts, dennoch müsse sich auch der EuGH der nationalen Perspektive öffnen.

III. Die Schlichtung

In Fachaufsätzen wird über ein neues Kompetenzgericht nachgedacht, das sich aus Richtern des EuGH als auch der nationalen Gerichte zusammensetzt, und im Streitfall schlichten kann. Die Idee, erklärt Garben, knüpfe an den Vorwurf an, der EuGH urteile zu europafreundlich.

Die Juristin wendet jedoch ein, dass ein neues Gericht die EU-Architektur weiter verkompliziert, ohne die strittige Machtfrage zu lösen. Dazu kommt: Es bräuchte eine Änderung der EU-Verträge. "Das ist grundsätzlich unwahrscheinlich", sagt Nguyen.

IV. Die Reform

Die Mitgliedsstaaten könnten durch eine Änderung der EU-Verträge das Prozessrecht anpassen und damit eine Brücke zwischen den Gerichten bauen. Sie könnten präzisieren, wie streng der EuGH die anderen EU-Organe kontrollieren muss. Zusätzlich könnten die EU-Staaten den Gerichtshof verpflichten, die nationalen Verfassungsgerichte bei sensiblen Fragen anzuhören.
"Wir können hier kreativ werden", sagt EU-Parlamentarier Lagodinsky. Nur: Das werde dauern. Er fordert die EU-Kommission auf, stärker zu vermitteln. "Es reicht nicht, den Ball einfach an Deutschland abzugeben."
Da es keine schnelle Lösung gibt, kann nun jedes neue Urteil Annäherung bedeuten - oder aber den Konflikt weiter eskalieren. Sacha Garben ist zuversichtlich: Die Kritik des BVerfG habe oft geholfen, das EU-Recht zu verbessern. Über viele Jahrzehnte habe eine "zwar komplexe, aber inspirierende und letztlich erfolgreiche Beziehung" bestanden. Das strittige Anleihe-Urteil? "Nur ein kleiner Ausrutscher", sagt Garben.


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