7 Abos und 3 Abonnenten
Artikel

Anklage wegen Kirchenasyl: "Ich konnte nicht anders"

Weil sie zwei Frauen Kirchenasyl gewährte, muss sich Schwester Juliana Seelmann aus dem Kloster Oberzell (Lkr. Würzburg) am 2. Juni vor Gericht verantworten. (Foto: Ivana Biscan)

in Samariter aber ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn." In nur wenigen Worten drückt dieser biblische Satz aus, was Nächstenliebe bedeutet, sagt die Ordensfrau Juliana Seelmann. Bis heute, davon ist sie überzeugt, sei das Gleichnis vom barmherzigen Samariter der Auftrag, Menschen in Not zu helfen.

An diesem Nachmittag im Mai hat die 38-Jährige ins Kloster Oberzell (Lkr. Würzburg) eingeladen, eine Gemeinschaft von über 100 Franziskaner-Schwestern, der sie sich vor gut 10 Jahren angeschlossen hat. Im Mutterhaus des Klosters, einem herrschaftlichen, gelb verputzten Gebäude, dessen Außenfassade kunstvolle Ornamente zieren, setzt sie sich an einen Tisch. Seelmann tritt bescheiden auf. Immer wieder huscht ihr ein sanftes Lächeln übers Gesicht, das jedoch schnell verschwindet, als sie vom tragischen Schicksal zweier Frauen aus Nigeria erzählt: Es ist eine Geschichte über Flucht und Menschenhandel, Ohnmacht und Einsamkeit – und eine folgenreiche Entscheidung.

Schwester Juliana: "Ich konnte nicht anders"

Am 2. Juni steht die Ordensfrau vor Gericht, angeklagt, weil sie zwei Nigerianerinnen 2019 und 2020 Kirchenasyl gewährte. Die Staatsanwaltschaft Würzburg wirft ihr "Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt vor" – eine Straftat. Schwester Juliana leugnet nicht, die beiden Frauen vor der Abschiebung bewahrt zu haben, soweit ist der Fall eindeutig. Sie kannte die Konsequenzen – und hofft doch auf Gerechtigkeit. Sie trage keine Schuld. "Ich konnte nicht anders", sagt die 38-Jährige, die erstmals öffentlich über ihren Prozess spricht.

Kirchenasyl ist eine Praxis, die polarisiert, ein Privileg der Kirchen, das im Spannungsfeld zum staatlichen Gewaltmonopol steht. Erst 2018 entschied das Oberlandesgericht München, dass es sich nicht um ein "anerkanntes Rechtsinstitut" handelt. Kritiker wenden ein, die Kirche würde damit die gesetzlichen Asylregelungen aushöhlen.

Kirchenasyl als letztmögliches Mittel, um die Menschenwürde zu schützen

Häufig handelt es sich um sogenannte Dublin-Fälle. Das heißt: Sobald Flüchtlinge über einen anderen Mitgliedsstaat in die Europäische Union (EU) einreisen, ist dieser für das Asylverfahren zuständig. Wer trotzdem nach Deutschland weiterzieht, dem droht die Rückführung – nicht in die Heimat, sondern in das Erstaufnahmeland.

Doch auch innerhalb der EU seien schwerste Menschenrechtsverletzungen dokumentiert, argumentieren die Kirchen. Wenn Flüchtlingen in Ländern wie Rumänien, Griechenland oder Italien Misshandlung, Zwangsprostitution oder Verfolgung drohen, sei das Kirchenasyl das letztmögliche Mittel, um die Menschenwürde zu schützen.

2015 verständigten sich das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf), die evangelische und die katholische Kirche auf ein Verfahren: Jedes Kirchenasyl gilt es sofort zu melden, anschließend prüft das Bamf erneut. Liegt aus Sicht der Behörde ein Härtefall vor, übernimmt Deutschland das Verfahren – ansonsten müssen Migranten das Kirchenasyl innerhalb von drei Tagen verlassen.

Trotzdem wird das Kirchenasyl häufig nicht beendet, womit die Grenze zur Illegalität überschritten ist. Die Dublin-Regeln sehen vor, dass Rückführungen nur innerhalb von sechs Monaten möglich sind. Nach dieser Frist ist automatisch Deutschland für das Asylverfahren zuständig, daher verharren die Migranten so lange im Kirchenasyl. Das sei notwendig, so die Kritik der Bundesarbeitsgemeinschaft "Asyl in der Kirche", weil das Bamf die Härtefall-Prüfung auf Druck der Innenminister immer weiter verschärfe.

Im Oktober 2020 erhielt Schwester Juliana Post von der Staatsanwaltschaft: einen Strafbefehl über 1200 Euro. Sie legte Einspruch ein. Die 38-Jährige wollte sich nicht "freikaufen". Am Mittwoch, 2. Juni, startet die Verhandlung am Amtsgericht Würzburg. Erst vor vier Wochen sprach das Amtsgericht Kitzingen den Benediktinermönch Abraham Sauer in einem ähnlichen Fall überraschend frei – soweit bekannt, war es der bundesweit erste Kirchenasyl-Prozess gegen einen Kirchen-Angehörigen, der mit einem Urteil endete.

Es ist rechtliches Neuland, das Richterin Patricia Finkenberger mit dem Freispruch betrat. Sie argumentierte, dass Bruder Abraham zweifelsfrei Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt geleistet habe. Der Tatbestand sei erfüllt und rechtswidrig sei das Kirchenasyl auch gewesen. "Es ist gegen das Strafgesetz verstoßen worden." Doch eine Verurteilung setzt noch ein drittes Kriterium voraus: die Schuld. "Herr Sauer handelte ohne Schuld", sagte die Richterin.

Im Prozess beteuerte Bruder Abraham er sei stets seinem Gewissen gefolgt. Auch eine Haftstrafe nehme er in Kauf. Das überzeugte Finkenberger – und sie entwickelte eine Konstruktion, die unter Juristen kontrovers diskutiert wird. Die Richterin leitete aus den Grundrechten einen Entschuldigungsgrund her. Sie konnte den Mönch nur freisprechen, weil sie sein rechtswidriges Handeln über die Glaubens- und Gewissensfreiheit (Artikel 4 des Grundgesetzes) entschuldigte.

Die Staatsanwaltschaft legte direkt am nächsten Tag Rechtsmittel ein. Es brauche ein Grundsatzurteil, heißt es aus Justizkreisen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich das Bundesverfassungsgericht in einigen Jahren mit dem Kirchenasyl auseinandersetzen muss.

Strafrechtler Eric Hilgendorf: Am Ende muss der Staat die Regeln verbindlich festlegen

Wie weit die Grundrechte ins Strafrecht hineinwirken können, wird auch 72 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes kontrovers diskutiert. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit, als "Ursprungsgrundrechte", seien tief in der europäischen Aufklärungsbewegung verwurzelt, erklärt der Würzburger Strafrechtler Eric Hilgendorf. Aus seiner Sicht ist der Freispruch für Bruder Abraham vertretbar. Die Grundrechte stünden in der Normhierarchie über dem Strafrecht.

 Er warnt jedoch: Es dürfe kein Schlupfloch entstehen, mit dem die Rechtsordnung ausgehebelt werden kann. Beim Kirchenasyl geht es um Humanität, doch wie ist die Glaubensfreiheit zu gewichten, wenn über Ehrenmord oder Exorzismus verhandelt wird? Immer wieder würden Recht und Religion in Konflikt geraten, sagt Hilgendorf. Um eine "totale Rechtsunsicherheit" zu vermeiden, müsse am Ende der Staat die Regeln verbindlich festlegen.

Schwester Juliana: "Es geht mir nicht um eine Grundsatzkritik – weder am Staat noch am Rechtssystem."

Für Schwester Juliana ist Kirchenasyl kein kalkulierter Rechtsbruch. "Es geht mir nicht um eine Grundsatzkritik – weder am Staat noch am Rechtssystem", sagt sie. "Es sind einzelne Härtefälle, in denen ich nach meinem Gewissen und Glauben entscheide." Die Hürden für ein Kirchenasyl seien so hoch, dass sie immer wieder Flüchtlinge abweisen müsse. Im vergangenen Jahr zählte das Bamf bundesweit 506 Flüchtlinge im Kirchenasyl. Das Kloster Oberzell betreute seit 2014 insgesamt 15 Kirchenasyle – darunter die beiden Frauen, die hier, um sie zu schützen, Anna und Marie heißen.

 Die Geschichte der beiden jungen Frauen beginnt in Nigeria, dem Land, in welchem sie bereits als Jugendliche vergewaltigt wurden, erzählt Schwester Juliana. Anna flieht mit knapp 20 Jahren, Marie ist 15 Jahre alt, als ihr Martyrium beginnt. Menschenhändler organisieren die Flucht. Noch in Nigeria müssen sie einen Juju-Schwur ablegen, eine in Westafrika verbreitete spirituelle Praktik, mit der Flüchtlinge unter Druck gesetzt werden. Wer den Schwur bricht und verschwindet, bevor die eigene Schuld beglichen ist, riskiere, so der Glaube, dass Unheil geschieht.

Die Frauen wurden zur Zwangsprostitution gezwungen

Die beiden Frauen werden zur Zwangsprostitution gezwungen – erst in Libyen, dann in Italien, wo die Schlepper sie in ein Apartment einsperren. Sie müssen sich prostituieren, immer wieder werden ihre Peiniger gewalttätig. "Mein ganzes Leben lang war ich ein Sex-Spielzeug, kein Mensch", sagt Marie. Beiden gelingt es, zu fliehen – verfolgt von nigerianischen Menschenhändlern, die im Süden Europas gut vernetzt sind.

 Kaum in Deutschland angekommen, erhalten sie den Rückführungsbescheid. Sie müssen zurück nach Italien, wo sie die meiste Zeit auf der Straße leben. Bei den Behörden melden sie sich nicht – aus Angst, von den Schleppern gefunden zu werden. Sie schaffen es erneut nach Deutschland, doch wieder droht die Rückführung. Diesmal gewährt ihnen das Kloster Oberzell Kirchenasyl.

Bamf stuft die beiden Frauen nicht als Härtefälle ein

Was die beiden Frauen erlebt hätten, übersteige die "Grenzen des Vorstellbaren", sagt Schwester Juliana. Sie seien schwer traumatisiert und hätten panische Angst nach Italien zurückzukehren. Bei Marie diagnostizierte ein Psychiater später eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Anna hat sich in der Zwangsprostitution mit HIV infiziert. In dieser Not, sagt Schwester Juliana, lasse ihr der Glaube keine Wahl. Da müsse sie die Klosterpforte öffnen. Keine Härtefälle, sagt das Bamf. Das Kirchenasyl müsse beendet werden. Doch Schwester Juliana weigert sich und wird angeklagt.

 Jürgen Heß vom Würzburger Flüchtlingsrat nennt die Ermittlungen eine "Einschüchterungsstrategie". Er meint, die Härte der Justiz passe zur Linie der Staatsregierung, die bei Asyl vor allem auf Abschreckung und Abwehr setze.

 Justizministerium: Beim Verdacht einer Straftat muss ermittelt werden

Das bayerische Justizministerium widerspricht und verweist auf das Legalitätsprinzip: Beim Verdacht einer Straftat müsse ermittelt werden. Dass die Verfahren – beispielsweise wegen Geringfügigkeit – eingestellt werden, komme "regelmäßig nicht in Betracht" – schon gar nicht in Wiederholungsfällen. Auf diese Linie, so ein Sprecher, hätten sich die drei Generalstaatsanwälte in Bamberg, München und Nürnberg geeinigt.

 Die Politik übe keinen Druck aus. Es gebe keine "Verschärfung der strafrechtlichen Verfolgung", beteuerte schon 2017 der damalige CSU-Justizminister Winfried Bausback. Fakt ist: Die Generalstaatsanwaltschaften unterstehen dem Justizministerium – eine Verflechtung, die immer wieder Kritik hervorruft.

2020 wurden 27 Verfahren gegen Geistliche eingeleitet

Im vergangenen Jahr wurden nach Angaben des Justizministeriums 27 Verfahren gegen Geistliche eingeleitet – mit welchem Ergebnis, ist nicht bekannt. Das wird statistisch nicht erhoben. Neu ist, dass immer mehr Fälle tatsächlich vor Gericht landen – allerdings bisher nur in Bayern.

Für Schwester Juliana ist das Kirchenasyl ein notwendiges Korrektiv. Auch der Staat mache Fehler, sagt sie. Marie hätte nach Nigeria abgeschoben werden sollen, doch ein Gericht kippte die Bamf-Entscheidung. Sie darf vorerst bleiben. Das Verfahren von Anna läuft aktuell noch.

Zum Original