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Jetzt geht's an die Substanz

Pädagogenverbände befürchten, dass sich der Lehrermangel in Bayern weiter verschärfen könnte und werfen der Staatsregierung vor, das Problem nicht ernst genug zu nehmen. (Foto: dpa)

Kultusminister Michael Piazolo bestreitet vehement einen Lehrermangel an Grund-, Mittel- und Förderschulen. Interne Prognosen des Ministeriums lassen allerdings noch Schlimmeres befürchten.

Es ist ein Ritual, das sich jedes Jahr im September wiederholt, wenn Erstklässler mit den Schultüten in die Klassenzimmer strömen: das Versprechen, vor jeder Klasse werde ein Lehrer stehen. Die meditative Gelassenheit, mit der Kultusminister Michael Piazolo (FW) über die Personallücken spricht, bringt Verbände und Gewerkschaften regelmäßig auf die Palme. Sie beklagen, der Minister würde den Lehrermangel schönreden. Es sind zwei Versionen, die nicht zusammenpassen.

Zum Schulstart in wenigen Monaten, darauf kann man sich verlassen, gehen die Diskussionen von vorne los. Das Kultusministerium geht davon aus, dass der "Lehrkräftebedarf gedeckt werden kann". Doch je konkreter man nachfragt, desto schmallippiger werden die Antworten. Mit welchen Szenarien und Prognosen rechnen die Beamten? Wie viele Lehrer könnten am ersten Schultag fehlen, würden nicht kontinuierlich neue Maßnahmen auf den Weg gebracht? Dazu möchte sich das Ministerium nicht äußern. "Wasserstände" würden grundsätzlich nicht kommuniziert, sagt ein Sprecher. Die Lehrerplanung sei ein "kontinuierlicher" Prozess, der noch nicht abgeschlossen sei.

Es ist die Regel, dass die Statistik zum Lehrerbedarf bis zum ersten Schultag immer wieder angepasst wird - und in diesem Pandemiejahr sind viele Faktoren, besonders auf Schülerseite, schwer zu kalkulieren. Doch es gibt Prognosen. Nach Informationen der SZ liegen in den Schubladen der Beamten konkrete Zahlen, die für mehr Klarheit sorgen würden. Nur soll darüber offenbar nicht berichtet werden.

Um den Lehrermangel aufzufangen, hat das Ministerium in den vergangenen Monaten erneut ein Maßnahmenpaket geschnürt, das vor allem die Grund-, Mittel- und Förderschulen trifft. Dort fehlen - anders als an Gymnasien und Realschulen - besonders viele Lehrer. Viele Schulleiter schmerzen vor allem die Kürzungen im gebundenen Ganztag. Bisher bekamen Schulen, die dieses Modell anbieten, zwölf zusätzliche Lehrerstunden pro Woche und Klasse zugewiesen, ab September sollen es noch neun Stunden sein - 25 Prozent weniger. Die Lücken, so die Pläne des Ministeriums, sollen über externes Personal aufgefangen werden. Darum müssen sich die Schulen allerdings selbst kümmern.

Und so geht es weiter: Wenn's an einer Schule brennt, soll auch bei Förderangeboten, Schul-AGs, Sprachkursen, im Randstunden-Bereich, also bei Fächern wie Musik, Kunst und Sport, sowie beim "Vorkurs Deutsch", einem Sprachförderprogramm im letzten Kita-Jahr, Lehrerstunden eingespart werden - zugunsten von Hauptfächern wie Mathe, Deutsch und Englisch.

Laut interner Berechnungen, die der SZ vorliegen, sollen so etwa 400 Vollzeitkapazitäten gewonnen werden - was übersetzt heißt, dass die Schulen frei werdende Stunden im Umfang von etwa 400 Vollzeit-Lehrern neu verteilen können. Durch die Kürzungen im Ganztag kommen nach Schätzungen des Hauptpersonalrats des Ministeriums weitere 100 Vollzeitkapazitäten dazu. Das Streichkonzert sei notwendig, um den "Kernbereich der Unterrichtsversorgung" abzudecken, heißt es in einem internen Schreiben des Ministeriums. Die Prognosen gingen von "hohen zusätzlichen Bedarfen aus, die allein durch die jährlich zur Verfügung stehenden Einstellungsbewerber nicht zu decken sein werden". Es gibt also doch konkrete Zahlen.

Das Ministerium will weder Klassen vergrößern noch die Stundentafel massiv kürzen, also wird bereits seit einigen Jahren gegengesteuert. Über eine Zweitqualifizierung können sich Gymnasial- und Realschullehrer, die nach ihrem Abschluss keinen Job finden, für den Unterricht an Grund-, Mittel- und Förderschulen umschulen lassen. Mehr als 3300 Lehrer haben das Programm bereits absolviert, 840 nehmen aktuell teil.

Während der Corona-Krise wurden rund 800 Quereinsteiger als Teamlehrer angeworben. Außerdem dürfen Lehrer an Grund-, Mittel- und Förderschulen seit diesem Schuljahr erst mit 65 in den Ruhestand gehen, Sabbatjahre sind gestrichen. Grundschullehrer wurden verdonnert, eine Stunde mehr zu arbeiten, was später ausgeglichen wird. An den Unis wurde die Zahl der Studienplätze erhöht, der Numerus Clausus im Grundschullehramt ist im Herbst gestrichen worden. Brisant ist, dass all das offenbar noch nicht ausreicht.

Ab September sollen, auch das ist neu, die Hürden, um ein Referendariat an Mittel- und Förderschulen zu absolvieren, weiter gesenkt werden. Ein Lehramtsstudium ist dann keine Voraussetzung mehr. Eigentlich muss, wer Förderschullehrer werden will, Sonderpädagogik auf Lehramt studieren, um in Lern- und Entwicklungspsychologie fit zu sein. Jetzt hat das Ministerium angeordnet, dass künftig ein (Sozial-)Pädagogik-Master ausreicht, obwohl dort völlig andere Inhalte gelehrt werden. "Das ist eine komplette Abkehr von Qualitätsstandards, auf die die bayerische Staatsregierung immer Wert gelegt hat", sagt Hans Lohmüller, Vorsitzender des Verbands Sonderpädagogik.

Für das Referendariat an den Mittelschulen reichen fortan Masterabschlüsse in Germanistik, Anglistik oder Biologie, die keine Kurse in Didaktik oder Pädagogik vorsehen. Dafür gebe es im Referendariat eine "begleitende Qualifizierung", schreibt das Ministerium. Für Gerd Nitschke, Vorsitzender des Hauptpersonalrats und Vizepräsident des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV), ist klar: "Da werden gerade die letzten Register gezogen."

Nun kann man einwenden, die Lehrerverbände würden sowieso immer meckern. Viele Schulleiter wollen reden, allerdings unter der Bedingung, dass ihr Name nicht genannt wird. Ihnen ist bewusst, dass schmerzliche Einschnitte unausweichlich sind, doch die Gespräche offenbaren einen Riss zwischen Schulen und Ministerium. Die Schulleiter beklagen eine "Verschleierung" des Lehrermangels, "Schönfärberei der schlimmsten Art" und einen "drohenden Qualitätsverlust". Eine Rektorin aus München fürchtet, das kommende Schuljahr werde "eine Katastrophe". Die neuen Sparmaßnahmen nennt einer ihrer Kollegen eine "inhaltliche Bombe" - ohne dass darüber in der Öffentlichkeit diskutiert wird.

Es sei fatal, dass ausgerechnet an den Mittelschulen bei Förder-, Musik- und Sportangeboten Lehrerstunden eingespart werden, sagt ein Schulleiter aus Würzburg. "Da geht es um elementare Sozialkompetenzen, die gerade Kinder, in deren Familien oft kein Deutsch gesprochen wird, brauchen." Für seine Schüler, oft aus benachteiligten Milieus, sei der Ganztag enorm wichtig. "Bildungsgerechtigkeit ist weit in den Hintergrund gerückt", konstatiert er. Es wird, weil die Lehrer fehlen, immer mehr externes Personal eingestellt, das erst eingelernt werden muss. Das kostet Zeit, die eigentlich nicht da ist. Auch die Personalakquise wird zunehmend vom Ministerium an die Schulen ausgelagert. "Ich bin die ganze nächste Woche damit beschäftigt, nach Personal zu suchen", beklagt die Chefin einer Mittelschule in Unterfranken. Der Markt sei leergefegt.

Ein "rhetorischer Trick", kritisieren Verbände wie der BLLV. Offiziell heißt es, es stünden doch Stellen und Geld bereit. Doch in der Realität finden die Schulleiter oft keine geeigneten Kandidaten. Dann heißt es: streichen, kürzen und umschichten. In der Not springt das Lehrerkollegium in die Bresche, damit der Unterricht nicht ausfällt. Diese Realität blendet Piazolo aus, wenn er von gesicherter Unterrichtsversorgung spricht. Das Ministerium sagt dazu kurz: Es sei stets gelungen, "alle offenen Lehrerstellen qualifiziert zu besetzen". Regierungen, Schulämter und Schulleitungen würden ihre Aufgaben "hervorragend meistern".

Fehlendes Fingerspitzengefühl in der Kommunikation erleben die Schulen immer wieder. Es ist erst einige Wochen her, als das Ministerium eine Bombe platzen ließ - ohne Ankündigung, ausgerechnet am späten Freitagnachmittag vor den Osterferien. Eigentlich freuten sich die Schulleiter auf ein paar freie Tage. Dann kam die Mitteilung über Stundenkürzungen im Ganztag. Der Ärger, gerade über den Zeitpunkt, war groß. "Es wird einfach übergestülpt", berichtet eine Münchner Rektorin. "Wir sind ja Staatsdiener."

Das Ministerium rechtfertigt die Kürzungen: Es könnten nun "multiprofessionelle Teams" eingesetzt werden - eine Forderung, die Bildungsverbände schon länger erheben. Doch es gibt wieder einen Haken. Das Konzept der Multiprofessionalität sieht vor, dass Lehrer im Ganztag von Pädagogen, Sozialarbeitern, manchmal auch von Fußballtrainern unterstützt werden. Das Ministerium aber streicht die Lehrerstunden, was die Idee ad absurdum führt. "Es geht immer nur um die Außendarstellung", kritisiert der Leiter eines Förderzentrums.

Nein, es herrscht noch kein Bildungsnotstand in Bayern. Noch immer gibt es im Freistaat überdurchschnittlich viele verbeamtete Lehrer und natürlich überdrehen Verbände und Gewerkschaften gelegentlich. Doch spurlos geht die aktuelle Personalpolitik an den Schulen nicht vorbei. Es entsteht ein Flickenteppich, der vor Ort immer mehr Ressourcen bindet. Statt Lehrern wird immer mehr externes Personal eingesetzt - häufig nur mit wenigen Stunden und befristeten Arbeitsverträgen. Studenten, Dolmetscher, Musikpädagogen, Germanisten und Sportwissenschaftler werden als Dritt- oder Honorarkräfte, Schulassistenten, Teamlehrer oder Ein-Fach-Fachlehrer angestellt.

Im Jahrestakt ploppen neue Jobbeschreibungen auf. Gleichzeitig nehmen Kooperationen mit Partnern in der Privatwirtschaft zu. "Outsourcing" nennt das ein Schulleiter. Jedes Jahr wird das Konstrukt undurchsichtiger, wobei Kritiker meinen, das habe System. Die Intransparenz erschwere es Personalräten, Verbänden die politischen Botschaften zu überprüfen. Die Brisanz des Lehrermangels werde verschleiert.

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