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Geldsegen für Familien: Das 200-Milliarden-Chaos

Den meisten Familien in Deutschland geht es gut – auch weil der Staat viel Geld in die Hand nimmt. Doch längst nicht alle Eltern profitieren von der Hilfe.

 Es ist eine gigantische Summe, mit der der Staat Familien unterstützt. Doch das System ist umstritten. Zwei Mütter erzählen von ihrem Kampf mit Anträgen und Behörden.

 

"Ich versuche alleine durchs Leben zu kommen", sagt Sandra W. (Name von der Redaktion geändert) über sich selbst. Die alleinerziehende Mutter sitzt auf dem Sofa in ihrer Wohnung eine knappe Viertelstunde von Würzburg entfernt. Sie blickt auf ihr Leben: Jahrelang war sie auf Hartz-IV angewiesen, der Vater ihrer beiden Kinder kümmert sich bis heute nicht. Die 52-Jährige war von Anfang an auf sich allein gestellt.

Mit der Geburt ihres Sohnes verlor sie den Anschluss an den Arbeitsmarkt – als alleinerziehende Mutter kam eine Rückkehr in den Fabrik-Schichtbetrieb nicht in Frage. 13 Jahre war sie auf Hilfe vom Staat angewiesen, musste vor Klassenfahrten – wie sie selbst sagt – beim Elternbeirat "betteln gehen". Für vieles sei bis heute kein Geld da. "Als Mutter sehe ich, wie sehr das meine Kinder belastet", erzählt sie.

Familienpolitik auf dem Prüfstand

Es sind solche Familien, für die es in Deutschland einen ganzen Katalog an Familienleistungen gibt. Geschätzt 200 Milliarden Euro investiert der Staat jedes Jahr – genau kann das nicht mal das Familienministerium beziffern. Das System aber ist umstritten.

2014 übte eine Regierungsstudie massive Kritik an der deutschen Familienpolitik und sorgte damit für Schlagzeilen. Erstmals hatte eine Forschergruppe über mehrere Jahre hinweg das verzweigte Netz der Familienleistungen evaluiert. Das Ergebnis war eine detaillierte Kosten-Nutzen-Analyse, die bis heute als Maßstab herangezogen wird.

Der Vorwurf: Die Familienpolitik der letzten Jahrzehnte sei vergleichbar mit einem 200-Milliarden-Puzzle, bei dem viele Leistungen nicht zusammenpassen. Doch statt das System grundlegend neu zu denken, füge die Politik immer neue Teile hinzu. Ein stimmiges Gesamtbild sei nicht erkennbar.

Das spürt auch Sandra W. "Ich versuche jeden Tag zu überleben", sagt sie. Da bleibe nicht die Zeit, sich nur damit zu beschäftigen, welche Leistungen einem zustehen. "Ich kriege Schweißausbrüche, wenn Post vom Amt kommt", erzählt die 52-jährige Mutter, die mit der Flut an Anträgen überfordert ist. Heute ist Sandra W. selbstständig, hält sich mit Putzjobs über Wasser. Viel Geld bleibt ihr am Monatsende nicht. Aber sie steht nach 13 Jahren wieder auf eigenen Beinen.

Michael Böhmer verantwortete die 2014 vorgestellte Regierungsstudie. Fünf Jahre später zeichnet der Volkswirt im Gespräch mit dieser Redaktion ein düsteres Bild. Vor dem Hintergrund der Studienergebnisse sei "wenig passiert", sagt er.

Zwar seien die Einführung des Elterngeldes und der Ausbau der Kinderbetreuung wichtige Schritte gewesen, doch an die Leistungen, die in der Studie besonders scharf kritisiert wurden, hat sich bisher keine Regierung getraut – zu groß seien die "politischen Beharrungskräfte". Dabei spielten in einer modernen Familienpolitik andere Maßstäbe eine Rolle, sagt Böhmer.

Scharfe Kritik an beliebten Leistungen

So habe die Forschergruppe beispielsweise das Kindergeld als ziemlich unwirksam bezeichnet. Zwar würden sich die monatlich rund 204 Euro im Geldbeutel bemerkbar machen, die Leistungen jedoch wenig zielorientiert mit der Gießkanne verteilt. Ausgerechnet bei Hartz-IV-Familien wird das Kindergeld sogar angerechnet.

Das Ehegattensplitting und die beitragsfreie Mitversicherung in der Krankenkasse sei laut den Forschern sogar besonders unwirksam. Die beiden Leistungen wären nur kurzfristig eine finanzielle Stütze. Langfristig würden sie aufgrund ihrer Konzeption dazu führen, dass gerade Mütter deutlich weniger arbeiten gehen. Das macht sich am Monatsende beim Blick auf den Kontostand bemerkbar.

Familienbund will am Ehegattensplitting festhalten

Dagegen sei der Ausbau der Kindergartenbetreuung laut der Studie eine Maßnahme, die einen sehr positiven Einfluss auf die Geburtenrate und die Erwerbstätigkeit von Frauen habe. Damit wirft die Studie eine grundlegende Frage auf: Soll der Staat lieber direkt Geld an Familien überweisen oder in Kitas, Schulen und Ganztagsangebote investieren?

Der Geschäftsführer des Familienbundes, Matthias Dantlgraber, steht den Ergebnissen der Studie kritisch gegenüber. "Es ist ein Märchen, dass Familien in Höhe von 200 Milliarden jährlich gefördert werden", sagt er im Redaktionsgespräch. Die Studie mache Leistende zu Leistungsempfängern. Familien verdienten aber einen gerechten Ausgleich für ihren gesellschaftlichen Beitrag.

Dantlgraber will auch am Ehegattensplitting festhalten und fordert Offenheit auch gegenüber traditionellen Familienmodellen. Gleichzeitig meldet der Familienexperte rechtliche Bedenken an. Eine Abschaffung des Kindergeldes oder des Ehegattensplittings sei kaum möglich. "Unsere Verfassung setzt uns hier einen klaren Rahmen", so Dantlgraber.

Über derartige Fragen macht sich die Würzburgerin Sabrina Visceglie keine Gedanken. Die junge Mutter kämpft seit Jahren mit der überbordenden Bürokratie. Sie erzieht ihre beiden Kinder alleine. Ihr letzter Mann hat sie verlassen, als sie zum zweiten Mal schwanger wurde.

Das Gespräch findet in ihrer Wohnung statt. Sie holt einen Ordner. Bescheide und Anträge sind darin fein säuberlich geordnet. Als Rechtsanwaltsgehilfin hat sie ein Händchen für Papierkram. Doch auch sie erkennt selten auf den ersten Blick, was die Behörden von ihr wissen wollen. "Da werden einem unnötig Steine in den Weg gelegt", ärgert sie sich. Einmal habe sie auf einem Antrag drei Fragen durchgestrichen, statt dreimal "Nein" anzukreuzen. Keine Chance. Nach kurzer Zeit lag der gleiche Antrag wieder im Briefkasten.

In Unterfranken leben in rund 21 Prozent der Familien die Eltern getrennt. Das Statistische Landesamt schätzt die Zahl auf insgesamt etwa 40 000 Familien, von denen hätten rund ein Drittel weniger als 1700 Euro im Monat zum Leben. In Familien, in denen die Eltern noch zusammenleben, liegt das durchschnittliche Einkommen deutlich höher. Dass Alleinerziehende besonders auf Hilfe vom Staat angewiesen sind, bestätigt Stefanie Frahsek, Leiterin der Erziehungsberatungsstelle der Stadt Würzburg.

Die Psychologin kritisiert außerdem die nicht endende Bürokratie. Immer wieder müssten Betroffene die gleichen Angaben machen, sich dabei an unterschiedliche Behörden in der ganzen Stadt wenden. Viele Anträge lägen nicht in mehreren Sprachen vor. Das mache im Alltag Probleme.

"Viele, vor allem einkommensschwache Familien, haben mit den Leistungen zu kämpfen", sagt Frahsek. Das gehe zu Lasten der Erziehung der Kinder, viele könnten an Aktivitäten ihrer Freunde nicht teilhaben. Sie fordert deshalb, vor allem in die Qualität der Kinderbetreuung zu investieren. Damit könne man die Eltern besonders effektiv entlasten.

Der Kritik schließt sich der Landesvorsitzende der Bayern-FDP, Daniel Föst, an. Auch er kennt die Regierungsstudie und zieht als Fazit: "Wir nehmen sehr, sehr viel Geld für Familien in die Hand, lösen aber kein Problem" – beispielsweise beim Thema Kinderarmut und der niedrigen Geburtatenrate.

Das System bläht sich immer weiter auf

Er fordert deshalb eine Entschlackung. "Durch das Drehen an einzelnen Stellschrauben, bläht sich das System immer weiter auf", sagt Föst. Viele Leistungen könnten zusammengelegt werden. Dafür schlagen die Freien Demokraten die Einführung eines sogenannten Kinderchancengeldes – bestehend aus einem Grundbetrag für alle und einem Flexibetrag je nach Einkommen der Eltern – vor. Die Leistung würde automatisch ausbezahlt werden. So würde jeder davon profitieren und der Staat müsste die Daten der Familien auch nur einmal erheben.

Die unterfränkische Grünen-Politikerin Kerstin Celina fordert den Ausbau wohnortnaher Familienstützpunkte – möglichst in der Nähe von Schulen und Kindergärten. In den Einrichtungen würden Familien unbürokratisch beraten – beispielsweise beim Beantragen von Familienleistungen.

In den staatlichen Behörden müsste den Mitarbeitern außerdem mehr Beurteilungsspielraum eingeräumt werden – zu oft werde strikt nach Paragraphen entschieden statt die individuelle Situation zu sehen. Viele Betroffene fühlten sich dadurch von Ämtern drangsaliert, kritisiert Celina. "Da müsste man häufiger fünf gerade lassen."

All diese Vorschläge richten sich direkt an Familienministerin Franziska Giffey – die viele in ihrer Partei als Hoffnungsträgerin sehen. Im Januar war die SPD-Politikerin in Karlstadt (Lkr. Main-Spessart). Dort versprach sie, Ordnung in die Familienpolitik zu bringen – so wie schon viele ihrer Vorgängerinnen. Sie forderte gleiche Startbedingungen für alle Kinder – egal wie viel Geld die Eltern verdienen. Dafür bräuchte es auch Reformen bei den Familienleistungen.

Auf Anfrage dieser Redaktion betont ein Sprecher ihres Ministerium jedoch, dass keine "weitläufige Bereinigung" geplant sei. Vielmehr müssten Korrekturen so harmonisch wie möglich ins System eingearbeitet werden. Letztlich wird damit der Kurs der letzten Jahrzehnte fortgesetzt – entgegen der Ergebnisse der Regierungsstudie. Am Kindergeld werde laut ihrem Ministeriumssprecher nicht gerüttelt. Auch Änderungen beim Ehegattensplitting stünden in der Bundesregierung derzeit nicht zur Debatte.

5,5 Milliarden für Kitas

Stattdessen lag der Fokus der Ministerin in ihrem ersten Jahr primär auf zwei Gesetzen, die bereits verabschiedet wurden: Mit dem "Gute-Kita-Gesetz" stellt der Bund 5,5 Milliarden Euro für den Kita-Ausbau zur Verfügung. Durch das "Starke-Familien-Gesetz" bekommen Familien an der Armutsgrenze mehr Geld und höhere Zuschüsse für Schulessen und Nachhilfe.

Immer wieder betont Franziska Giffey dabei, wie wichtig ihr verständliche Sprache sei. So stünden auf dem neuen Familienportal Anträge und Leistungsrechner auch in einfacher Sprache zur Verfügung.

Sandra W. freut sich, wenn sie womöglich bald den Großteil der Anträge auf dem Handy ausfüllen kann – einen Laptop kann sie sich nämlich nicht leisten. Für sie ist das ein erster, kleiner Schritt in die richtige Richtung.

 

So will der Staat Familien zusätzlich unterstützen:

Zuschuss für den Kita-Beitrag: zukünftig auch im ersten und zweiten Kindergartenjahr (ab 2019) und für Krippenkinder im zweiten und dritten Lebensjahr (ab 2020)

  • 2019: 210 Millionen Euro
  • 2020: 395 Millionen Euro

Baukindergeld: Zuschuss vom Bund für Familien beim Hausbau und -kauf (pro Kind 1200 Euro über 10 Jahre)

  • 2019: 3,3 Milliarden Euro
  • 2020: 3,3 Milliarden Euro

Zusätzlich stellt der Freistaat Bayern beiden Jahren jeweils 37,5 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung ("Baukindergeld Plus")

Gute-Kita-Gesetz: Bis 2022 investiert der Bund 5,5 Milliarden Euro in die Kinderbetreuung in Deutschland. Die Länder entscheiden, ob sie das Geld in Beitragsfreiheit, bessere Betreuungsschlüssel, kindgerechte Räume oder sprachliche Bildung investieren.

Starke-Familien-Gesetz: Erhöhung des Kinderzuschlags (Geldleistung für Familien an der Armutsgrenze) und Verbesserung der Leistungen für Bildung und Teilhabe (Zuschüsse für Schulessen und Nachhilfe)

Familienentlastungsgesetz: unter anderem Erhöhung des Kindergeldes (ab 1. Juli 2019 um 10 Euro pro Kind und Monat) und Anpassung des steuerlichen Kinderfreibetrags (2019 und 2020 um jeweils 192 Euro)

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