5 Abos und 2 Abonnenten
Artikel

60 Jahre Anwerbeabkommen mit der Türkei: "Die Welt gehört denen, die arbeiten"

Über Anwerbeabkommen sind seit den 1950er-Jahren zahlreiche sogenannte Gastarbeiter nach Baden-Württemberg gekommen. Darunter auch Yasar Dursun aus Sindelfingen.v Ein Blick zurück.

Veröffentlicht bei SWR Aktuell am 30.10.2021.

Der Beitrag war Teil der SWR-Podcastreihe "60 Jahre 'Gastarbeiter' aus der Türkei - zwischen Kommen, Gehen und Bleiben": 60 Jahre "Gastarbeiter"-Geschichte in Baden-Württemberg

Auf den Tag genau weiß er es noch: Es war der 22. Juli 1971, als Yasar Dursun, damals 33 Jahre alt, in Deutschland angekommen ist. Ursprünglich wollte er nur zwei Jahre bleiben, doch aus zwei Jahren in Deutschland wurde ein ganzes Leben, erzählte der heute 84-Jährige im Interview mit SWR Aktuell. Heute lebt Familie Dursun in mittlerweile dritter Generation in Sindelfingen (Kreis Böblingen).

Wie Yasar Dursun kamen spätestens ab den 1960er-Jahren Hunderttausende Menschen aus sogenannten Entsendeländern wie der Türkei nach Baden-Württemberg. Die Bundesregierung hatte am 30. Oktober 1961 das Anwerbeabkommen mit der Türkei geschlossen. Zuvor hatte es bereits ähnliche Verträge mit Italien, Spanien und Griechenland gegeben.

Grund war ein großer Bedarf an Arbeitskräften während des sogenannten Wirtschaftswunders im Land: "Baden-Württemberg war zu diesem Zeitpunkt ein höchst attraktiver Wirtschaftsstandort", erklärt Professor Reinhold Weber. Er ist Honorarprofessor an der Universität Tübingen und stellvertretender Direktor der Landeszentrale für politische Bildung in Baden-Württemberg. Arbeitskräftemangel habe es zu diesem Zeitpunkt in fast jeder Branche gegeben. "Deshalb war Baden-Württemberg schon von Anfang an Hotspot der Zuwanderung von Arbeitsmigranten."

Um diesen hohen Bedarf an Arbeitskräften zu stillen, wurden ab den 1950er-Jahren immer mehr Menschen aus dem Ausland angeworben. Es kam sogar zu einem "Run" auf die "Gastarbeiter", wie Weber erzählt: "Wenn man jetzt die Zugstrecke München - Stuttgart nimmt, dann standen die Unternehmer wirklich an den einzelnen Bahnhöfen und haben praktisch versucht 18 oder 20 aus dem Zug heraus abzugreifen." Der übliche Weg ging über die sogenannten Verbindungsstellen, beispielsweise in Istanbul. Dort wurden die Arbeiterinnen und Arbeiter zuerst untersucht und dann direkt an Unternehmen im Land vermittelt.

Insbesondere an die gesundheitlichen Untersuchungen erinnern sich viele der "Gastarbeiterinnen" und "Gastarbeiter" negativ: Bewerberinnen und Bewerber mussten sich bis auf die Unterwäsche ausziehen. Frauen wurden oft zum ersten Mal von einem männlichen Arzt untersucht. Viele Zeitzeuginnen und -zeugen beschreiben dieses Prozedere als sehr unangenehm, sagte Weber.

"Wirtschaftswunder" ohne "Gastarbeiter" unmöglich

In Deutschland angekommen, arbeiteten viele der neu angeworbenen Arbeitskräfte in den klassischen Branchen - in Baden-Württemberg vor allem im Maschinenbau oder in der Automobilindustrie. Es kamen auch viele Frauen, sie wurden insbesondere in der damals noch stark florierenden Textilbranche eingesetzt, aber auch als Industriearbeiterinnen. Davon profitierte das Land in großem Maße wirtschaftlich, sagte Weber.

"Klar ist, dass das Wirtschaftswunder, wie es Mitte der 50er-Jahre stattgefunden hat, in dieser unglaublichen Dynamik ohne die Gastarbeiter nicht hätte stattfinden können."

Doch auch die ansässigen und deutschen Arbeiterinnen und Arbeiter profitierten von der Anwerbung der sogenannten Gastarbeiter. Die neuen Arbeitskräfte übernahmen zumeist die einfacheren Arbeiten, die körperlich schweren oder unbeliebten Tätigkeiten. Durch diese "Unterschichtung" konnten deutsche Arbeitskräfte in vielen Fällen sozial in bessere, angenehmere Positionen aufsteigen. "Wir nennen das einen sozialen Fahrstuhleffekt", erklärt Weber.

Harte körperliche Arbeit und auch Arbeitsunfälle waren für die "Gastarbeiterinnen" und "Gastarbeiter" der 50er- bis 70er-Jahre häufig die Regel. "Ich kenne selber viele Beispiele von Älteren aus der sogenannten Gastarbeiter-Generation, die nicht nur sehr hart gearbeitet haben, sondern sich im Grunde körperlich kaputt gearbeitet haben, bis hin zur Arbeitsunfähigkeit", sagte Weber. "Und das ist auch das, was bei uns lange, lange Zeit nicht genug wertgeschätzt wurde, dass sich da viele Arbeitsmigranten im Grunde für das deutsche Wirtschaftswunder kaputt gearbeitet haben."

Vom Bergwerk in Bottrop zu Daimler nach Sindelfingen

Für Yasar Dursun ging es 1971 zuerst nach Bottrop, wo er als Bergarbeiter im Tagebau anfing. Er hatte Glück, wie er im Podcast erzählt, denn er musste in dieser gesundheitsbelastenden Arbeit nur 18 Monate bleiben. Landsleute aus seinem Dorf wären dann nach Sindelfingen gegangen, um beim Stuttgarter Autobauer Daimler zu arbeiten. "Komm doch mit", hätten sie ihm gesagt. Dieses Angebot hat er angenommen.

Die schwäbische "Schaffa"-Mentalität brachte er gleich mit. "Die Welt gehört denen, die arbeiten", sagte der heute 84-jährige Yasar Dursun im SWR-Interview. "Unsere Erwartung war selbstverständlich gut Geld zu verdienen. Wir hatten von allem, aber viel Geld hatten wir nicht." Das Ziel der Auswanderung war für ihn, der Familie ein besseres Leben zu ermöglichen. Das habe er geschafft.

Lange Jahre lebte Yasar Dursun mit Kollegen in einem Wohnheim für "Gastarbeiter". Erst 1978 konnte er seine Frau und seine drei Kinder nach Deutschland holen. Heute hat er 15 Enkel, von denen fünf studieren konnten. Sein Enkel Orhan Dursun ist heute 29 Jahre alt. Fast jeden Morgen treffen sich die beiden auf Kaffee und Brezel in einem Café. "Das ist unser Morgenritual", erzählt Orhan. Er ist seinem Großvater sehr dankbar, wie er sagt: "Ich bin glücklich darüber, dass er damals die Entscheidung getroffen hat, nach Deutschland zu kommen. Wie er es hier gehandhabt hat, finde ich bemerkenswert. Deswegen bin ich stolz auf ihn."

Zum Original