Eine Multimediareportage von Raphael Knipping und Michael Trammer.
“Lesbos - der Versuch einer Momentaufnahme” ist eine Online-Multimediareportage über die politische, humanitäre und gesellschaftliche Situation auf der griechischen Insel Lesbos Ende Februar und Anfang März 2020.
Auf der Ägäisinsel befindet sich zu diesem Zeitpunkt “Moria”, das größte Lager für Geflüchtete in Europa. Über 20.000 Menschen sitzen dort in selbstgebauten Hütten und Zelten fest. Nach der gefährlichen Überfahrt mit Schlauchbooten aus der Türkei, dem Traum von “Europa” einen Schritt näher, sollen sie nun teilweise mehrere Jahre auf die Bearbeitung ihres Asylantrags auf Lesbos warten. Die Geflüchteten befinden sich in einer Sackgasse, es fehlt am Nötigsten, nicht einmal fließendes Wasser ist garantiert. Geheizt wird aus Mangel an Alternativen mit dem Holz der Olivenbäume.
Die einheimischen Inselbewohner*innen fühlen sich mit den Folgen des sogenannten “Hotspots” von der europäischen Union im Stich gelassen. Während die Inselbevölkerung 2015 noch für ihren humanitären Umgang mit Geflüchteten für einen Friedensnobelpreis nominiert war, entwickelt sich die gesellschaftliche Stimmung in den folgenden Jahren zunehmend zu einem Pulverfass. Immer wieder gibt es Berichte über Angriffe auf Geflüchtete und NGO-Mitarbeiter*innen. Als die griechische Regierung Ende Februar 2020 ankündigt, ein neues geschlossenes Lager für Geflüchtete zu errichten und dafür Land konfisziert, entlädt sich die über Jahre angestaute Wut der Inselbewohner*innen. Die Stimmung kippt endgültig, als der türkische Präsident Erdoğan im März 2020 ankündigt, die türkischen Grenzen für Geflüchtete in Richtung EU zu öffnen. Durch die “Grenzöffnung” gelingt Geflüchteten die Überfahrt nach Lesbos abseits des Schutzes der Nacht. Es kommt zu rassistischen Spontanmobilisierungen und Brandstiftungen auf der Insel. Extrem Rechte aus ganz Europa reisen daraufhin an die europäischen Außengrenzen und insbesondere nach Lesbos.
Für uns stand früh fest, dass wir die Vielzahl an Perspektiven und Konflikten in einer interaktiven Multimediareportage verarbeiten wollen. Startpunkt hierfür ist ein Trailer, der die wichtigsten Punkte der Reportage zeigen soll. Anschließend erfolgt die geographische Verortung mit Hilfe einer Karte, die auch als interaktives Inhaltsverzeichnis dient. Das erste Kapitel, Moria wird durch Fotos, Videos und Text getragen, die einen ersten Eindruck vom Camp vermitteln sollen.
Zentraler Aspekt des Kapitels sind die Schicksale von einzelnen Geflüchteten. In intimen Videoportraits erfahren Zuschauer*innen die Träume, Wünsche und Sorgen einzelner Bewohner*innen von Moria. Der direkte Blick der Protagonist*innen in die Kamera erzeugt Nähe und soll die Menschen der Anonymität des Lagers und der Statistik entreißen. Wichtig war es uns auch, die Autor*innenschaft in Teilen an Geflüchtete abzugeben. Fotojournalismus an Orten wie Moria bewegt sich oftmals auf einem ethisch schmalen Grat. Journalist*innen laufen Gefahr, eine postkoloniale Bildsprache zu reproduzieren und werden kaum einen unverfälschten Blick auf Moria bekommen können. Beispielsweise ist man als westlich gelesene/r Fotograf*in in Moria innerhalb von Minuten von einer Vielzahl an Kindern umgeben. Darum haben wir Einwegkameras an Geflüchtete verteilt, um sie selbst ihre Eindrücke von Moria darstellen zu lassen.
Bisher konnten wir nur die Fotos einer Einwegkamera veröffentlichen, da sich die restlichen Kameras wegen Covid-19 weiterhin in Moria befinden. Da Geflüchtete in der Bebilderung des Leids in Moria oftmals zum Beiwerk einer möglichst dramatischen Inszenierung werden können, haben wir außerdem mit der Bildergalerie People of Moria versucht, die Menschen dem Camp zu entreißen und ihre Individualität zu zeigen.
Die Perspektive der lokalen Bevölkerung und den historischen Moment, als die Stimmung auf der Insel nach Jahren der Solidarität zum Teil kippt, zeigen wir in der Form einer “klassischen” Videoreportage. Für das Kapitel der Überfahrt nutzen wir ein Video einer Ankunft eines Bootes und Statistiken von IOM und Aegean Boat Report, welche laufend aktualisiert werden. Zur Visualisierung der Statistiken haben wir das Tool Datawrapper genutzt. Gegen Ende der Multimediareportage sprechen eine NGO-Mitarbeiterin und eine Aktivistin von Lesvos Solidarity in Audiointerviews über ihre Wahrnehmung der Situation und daraus erwachsende Perspektiven.
Wir haben für die Reportage knapp vier Wochen vor Ort recherchiert, lokale Netzwerke aufgebaut und Interviews geführt, gefilmt und fotografiert. Nach etwa einem Monat Bearbeitung haben wir die Webseite lesvos.pageflow.io/lesvos am 16.04.2020 online geschalten. Später haben wir die Texte und Untertitel auf Englisch übersetzt, um die Seite auch internationalem Publikum zugänglich zu machen. Erstellt wurde die Reportage mit dem Tool Pageflow, welches die Webseite auf unterschiedlichen Endgeräten darstellen lässt. Da immer mehr Nutzer*innen Smartphones als Endgerät nutzen, haben wir uns dazu entschieden Teile bereits in Hochformat zu drehen. Über 50% der Besucher*innen rufen unsere Webseite mit einem Smartphone auf, was diese Entscheidung im Nachhinein bestätigte.
Von vornherein stand für uns fest, diese zeitgeschichtliche Dokumentation für Alle zugänglich - also kostenlos und Cross-Plattform - zu gestalten. Außerdem wollten wir eine moderne und zukunftsfähige Arbeit schaffen, die sich in einer immer schnell-lebigeren Nachrichten- und Medienwelt behaupten kann. Besucher*innen der Seite sollen sich auf eine tiefergehende digitale und interaktive 45-minütige Reise an die Außengrenze der EU begeben und dabei - anders als bei einer klassischen Video- oder Textreportage - stärker einbezogen werden.
Das Projekt wird von Spenden und der medialen Weiterverwertung von Video-, Bild- und Textmaterial finanziert.
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