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Feature

Der Traum vom Turmbau in Saint-Denis

Evangelischer Pressedienst epd | 16.06.2016

Seit dem 19. Jahrhundert fehlt der Kathedrale von Saint-Denis der Nordturm. Ein Verein kämpft für den Wiederaufbau nur mit den Techniken des Mittelalters - und hofft auf Touristen. Kritiker sprechen von Vandalismus und einem Kathedralen-Disneyland.

Die Schöne hat für ihn einen großen Makel. „Es ist, als ob ihr ein Arm oder ein Bein amputiert wurde“, sagt Luc Fauchois. Der 65-Jährige steht vor der Kathedrale von Saint-Denis nördlich von Paris. Rechts ein Glockenturm, links aber Leere: Seit eineinhalb Jahrhunderten fehlt der Basilika der zweite, einst viel höhere Kirchturm samt seiner Spitze. Fauchois kämpft dafür, dass er wieder erbaut wird. Nicht irgendwie. Sondern mit Bau-Techniken wie im Mittelalter.

Während Fußballfans bei der Fußball-Europameisterschaft in die andere Sehenswürdigkeit der Stadt strömen, ins Stade de France, sind in der Innenstadt Plakate mit der Aufschrift „Folgen Sie der Kirchturmspitze“ zu sehen. Fauchois ist Vorsitzender des gleichlautenden Vereins „Suivez-la-flèche“, und diese Plakate werben für den Wiederaufbau. Wird der wahr, bekommt Frankreich eine der außergewöhnlichsten Kathedralenbaustellen.

Der frühere Leiter der Kommunikationsabteilung der 100.000-Einwohner-Stadt in der Banlieue von Paris setzt sich in die Bar Le Basilic und bestellt sich ein Bier. Dann schwärmt er von der historischen Bedeutung der Kathedrale. Geweiht ist sie dem heiligen Dionysius, dem ersten Bischof von Paris. Dionysius erlitt 250 den Märtyrertod. Die Legende erzählt, dass er in der Zeit der Christenverfolgung auf dem Montmartre in Paris enthauptet wurde. Danach soll er seinen Kopf genommen haben und bis zum Standort der heutigen Basilika marschiert sein, wo er tot umfiel und begraben wurde.

„Während des Mittelalters war Saint-Denis der Sitz der religiösen wie auch politischen Macht“, sagt Fauchois, der einst Geschichte studierte. Im 5. Jahrhundert war der Bau zunächst eine Klosterkirche und Teil einer mächtigen Benediktinerabtei. Im 12. Jahrhundert hat der einflussreiche Abt Suger die ersten spitzbogigen Kreuzrippengewölbe einbauen lassen – deshalb gilt die Kathedrale als eine der Gründungsbauten der Gotik. Zudem wurde sie zum bevorzugten Bestattungsort der französischen Herrscher. 42 Könige, 32 Königinnen, 63 Prinzen und Prinzessinnen sind hier begraben. Es sei traurig, dass nur 160000 Menschen im Jahr dieses außergewöhnliches Kulturerbe besichtigen, während 13 Millionen in die Pariser Notre-Dame strömten, meint Fauchois.

Er hofft, dass der Turmbau die Massen anlockt. Der nördliche Kirchturm war 1219 fertig gewesen, 86 Meter war er hoch. „Die Turmspitze war von weiten in der ganzen Pariser Region sichtbar“, erinnert Fauchois. Man wollte Notre-Dame in Paris Konkurrenz machen. Mehr als 600 Jahre später, 1837, schlägt ein Blitz in den Turm ein. Kurze Zeit später rütteln schwere Stürme am Bauwerk. Weil er dabei gefährlich beschädigt wird, lässt fast zehn Jahre später der berühmte Architekt Viollet-le-Duc den Turm abbauen. Sorgfältig lässt er die Steine nummerieren, macht genaue Skizzen vom Rückbau. Sein Plan: Der Turm soll wieder aufgebaut werden, wenn die Fassade und der Rest der Kathedrale restauriert und gefestigt wäre. Doch dazu kommt es nicht mehr.

Seit den 1970er Jahren träumen immer wieder zahlreiche Dionysiens, wie die Einwohner von Saint-Denis genannt werden, vom Wiederaufbau. Mal gibt es Petitionen, mal Briefe an die Regierung, mal Demonstration mit Lasershow vor der Kathedrale. 1989 gibt sogar der sozialistische Kultusminister Jack Lang sein Einverständnis – aber der Staat will keinen einzigen Franc dazugeben. Kein Geld, kein Turm.

Dann gerät die Kathedrale wieder aus dem Blickfeld, denn Saint-Denis bekommt eine neue Sehenswürdigkeit, die alle Aufmerksamkeit auf sich zieht: das Stade de France. 1998 wird es zur Fußball-Weltmeisterschaft eingeweiht. Alle schauen auf das Endspiel in Saint-Denis. Frankreich wird Weltmeister.

Nun bekommt das Turmwunder eine neue Chance. Nicht nur, weil ein hochkarätiges Unterstützerkomitee für den Bau wirbt. „Sondern weil etwas Spannendes in den vergangenen Jahren in Frankreich passiert ist“, sagt Fauchois. Er meint damit die Lust der Franzosen auf Mittelalter-Baustellen.

Zum einen wird derzeit im Burgund eine mittelalterliche Burg erbaut namens Guédelon - mit den Techniken und Werkzeugen von früher. Mit Steinen aus dem Steinbruch von nebenan. Mit Ziegeln, die mit Tonerde vor Ort gebrannt werden wie im 13. Jahrhundert. Mit Arbeitern in Hamsterrädern, mit denen das Material nach oben gezogen wird. Finanziert wird das alles durch den Eintritt der Besucher. Und die kommen in Scharen: rund 300000 im Jahr.

Einen ähnlichen Erfolg hatte der Wiederaufbau der französischen Fregatte „Hermione“ in Rochefort. Das Schiff, mit der einst Marquis de La Fayette 1780 nach Boston segelte, um den  Unabhängigkeitskampf zu unterstützen, wurde 1997 bis 2014 nachgebaut.

Auch Saint-Denis setzt auf diese Zeitreisen-Lust der Franzosen. 20 Millionen Euro würde das Projekt in Saint-Denis kosten. Eine Anschubfinanzierung für die Projektstudien würden private Unternehmen sichern, den Rest komme durch die Eintritte herein, sagt Fauchois.

Geplant ist eine einzigartige Mittelalter-Baustelle mit Steinmetzen, Schmieden, Zimmermännern. Lastenkarren sollen rollen, Seilwinden schnurren. An der Kathedrale soll eine Atmosphäre herrschen wie damals – mit Händlern, Gauklern, geschäftigem Treiben. Anders als in Guédelon sollen sich die Handwerker und Arbeiter zwar nicht in mittelalterlicher Kleidung auf der Baustelle aufhalten. Aber für Schulklassen und andere Interessierte soll es genauso Workshops geben: Steinmetze erklären dann ihr Handwerk den Jugendlichen aus den Vierteln, Architekten sprechen über Statik und Geometrie. „Man kann von Paris aus mit der Métro ins Mittelalter fahren.“

Ein gigantisches Gerüst soll es den Besuchern ermöglichen, den Fortschritt des Turmbaus aus der Nähe mitzuverfolgen. Ein Aufzug brächte sie auf eine Höhe von 90 Metern: freier Blick auf Saint-Denis und gen Paris. Und dann kann man per Treppen rund um den Turm wieder nach unten laufen.

Der Staat ist Eigentümer der Kathedrale und entscheidet, ob der Turm Wirklichkeit wird oder nicht. Nach einem Besuch im vergangenen Herbst gab Staatspräsident François Hollande dem Projekt seine Zustimmung. Wunschtermin für den Baubeginn ist das Frühjahr 2017. Doch die offizielle Starterlaubnis aus dem Kultusministerium für die wichtigen finanziellen, juristischen und technischen Studien lässt noch auf sich warten.

Vielleicht auch, weil es heftigen Widerstand gegen das Projekt gibt. Die Kunstzeitschrift „La Tribune de l’art“ etwa warnte vor Vandalismus und bezeichnete die Pläne als grotesk. Den Verantwortlichen gehe es nicht um das Bauwerk, sondern um eine Attraktion à la Disneyland. Die Kritiker berufen sich auf  die Charta von Venedig, eine internationale Richtlinie zur Denkmalpflege aus dem Jahr 1964. Die verlangt unter anderem, dass Baudenkmäler nicht auf Vermutungen basierend oder willkürlich verändert werden sollen. Luc Fauchois wehrt sich dagegen: „Wir verstoßen nicht dagegen, denn wir haben schließlich noch die detaillierten Pläne von einst.“ Er verweist auf den erfolgreichen Aufbau der Dresdner Frauenkirche.

„Es ist schon eine sehr eine verrückte Idee“, sagt der Chef des Tourismusbüros der Stadt, Régis Cocault. Klar sei aber: Dieses Projekt würde Arbeitsplätze, Touristen und ein besseres Image bringen. Saint-Denis hat eine Jugendarbeitslosigkeit von 30 Prozent, einen hohen Migranten-Anteil, viele soziale Probleme. Im November vergangenen Jahres wurde die Stadt doppelt traumatisiert. Erst hatten sich am Stade de France drei Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt , wenige Tage später stürmten Spezialkräfte bei einem Anti-Terror-Einsatz inmitten des Stadtzentrums ein Haus, in dem sich Terroristen verschanzt hatten. Der Kirchturmbau soll der ganzen Stadt Elan geben – und die Bewohner einen.

 

Internet:

 

suivezlafleche.fr/

 

Anreise von Paris: Mit der Métro (Linie 13) bis zu Haltestelle „Basilique de Saint-Denis“.