Nina B.* hat als Kind jahrelang schwere sexuelle Gewalt erlebt. Der Täter war ihr Halbbruder. Er hat die Taten nicht bestritten und vor zwei Jahren eine hohe fünfstellige Summe Schmerzensgeld gezahlt. Auch in der Familie und in der Kirchengemeinde, die offenbar viel Einfluss auf die Familie hatte, streitet niemand die Taten ab. Warum stellen sich in der Familie immer noch viele schützend hinter den Halbbruder und nicht hinter sie? Warum beschimpft der Vater sie als "Hure" und ächtet nicht den Täter? Warum fragt keiner, wie es ihr geht und ob sie Hilfe braucht? Stattdessen empfiehlt ihr die Leitung der Gemeinde ihres Halbbruders heute, sie möge darüber nachdenken, dem Täter zu vergeben. Das biete ihr eine Möglichkeit, inneren Frieden zu finden.
Nina B. ist 41 Jahre alt, selbstbewusst und beruflich erfolgreich. Seit 20 Jahren arbeitet sie bei einem großen Automobilkonzern. Heute kann sie offen über das Geschehene sprechen, doch es fällt ihr schwer, damit abzuschließen. Gern hätten wir sie persönlich getroffen, der Termin war ausgemacht. Gern hätten wir Gottesdienste in der freikirchlichen Kirchengemeinde besucht und mit den Verantwortlichen direkt gesprochen. Doch dann kam Corona. So haben wir mit Nina B. mehrere lange Telefonate geführt und über Zoom mit ihr gesprochen. Wir sahen eine gepflegte Frau mit schwarzem Jackett, Ohrringen und langen dunklen, nach hinten gebundenen Haaren. Wir konnten Mailwechsel und Anwaltsschreiben einsehen und haben die Kirchenverantwortlichen per Mail um Stellungnahme gebeten. Und wir haben mit Experten telefoniert, die sich auskennen mit sexueller Gewalt in kirchlichen Kontexten, mit Traumabewältigung und spirituellem Missbrauch.
1989, sie war elf Jahre alt, bekam ihr damals 17-jähriger Halbbruder einen Computer und spielte Videospiele. Nina durfte zusehen. Plötzlich, sagt sie, bedrängte ihr Bruder sie körperlich. Sie habe instinktiv gespürt, dass das nicht richtig ist. Sie habe Schmerzen gehabt und ihm das auch gesagt, aber er habe weitergemacht: "Ich bin dein Bruder, ich darf das." Sie habe sich nicht getraut, ihm zu widersprechen und sich zu wehren. Denn von klein auf war ihr vermittelt worden, dass sich Mädchen und Frauen nicht zu widersetzen haben, wenn Männer etwas wollen. Und das hatte viel mit der baptistisch-freikirchlichen Gemeinde im Nachbarstadtteil zu tun.
Sie war Dreh- und Angelpunkt im Leben von Familie B. Die Gemeinde hatte wenige Hundert Mitglieder, die Familien kannten sich untereinander. Samstags gingen die Kinder in die Kinderstunde, sonntags kamen alle zum Gottesdienst zusammen, man feierte gemeinsam Hochzeiten und Gemeindefeste, unternahm Ausflüge und fuhr auf Kirchenfreizeiten. Hatte jemand in der Familie eine Beziehung zu jemandem außerhalb der Gemeinde, wurde das von den anderen Gemeindemitgliedern misstrauisch beäugt, erzählt Nina B. Die soziale Kontrolle sei hoch, und was der Pastor gepredigt habe, sei Gesetz gewesen.
In der Kirche und zu Hause lernte Nina B.: Frauen sind da, um Kinder zu kriegen und den Haushalt zu machen, so erinnert sie sich. Über Sexualität wurde nicht geredet, aber auch so war klar: Sex vor der Ehe ist eine Todsünde. Unverheiratete schwangere Frauen seien aus der Gemeinde ausgeschlossen worden, Ninas Nichte sei das passiert. Die Frauen hatten sich "züchtig" zu kleiden. Zum Gottesdienst mussten sie Ende der 1980er lange Röcke tragen und die verheirateten Frauen Kopftuch.
Vermeintlich unchristliche Musik und Bücher waren in Ninas Kindheit verpönt, Kinobesuche galten als Sünde. Als Nina mit Freundinnen "Das Dschungelbuch" sehen wollte, warnte der Vater: Wenn sie da hingehe und Jesus komme, um die Eltern zu holen, dann werde er sie nicht mitnehmen! "Man muss sich das mal vorstellen", sagt Nina im Zoom-Chat, "ich sitze im Kino, schaue Mogli zu und frage mich, ob ich ein schlechter Mensch bin." Als sie heimkam, waren die Eltern weg. Nina geriet in Panik. "Ich dachte wirklich, Jesus hätte sie abgeholt und mich alleine zurückgelassen."
Ständig wurde Nina mit der Hölle gedroht. Wie sich die Hölle anfühlt, lernte sie an Informationsabenden in der Gemeinde, zu denen ihre Eltern sie mitnahmen. Da war viel von Feuer und Verdammnis die Rede, Bilder wurden dazu gezeigt. "Ich habe mich fest an meine Mutter geklammert", erzählt sie.
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