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Auf der Suche nach dem Altstadttunnel

Heidelberg unter der Erde (I) - In einer dreiteiligen Serie versucht der ruprecht fiktive, existierende und geplante Heidelberger Unterwelten aufzuspüren. Den Anfang macht eine weitverbreitete Legende: Der unterirdische Gang vom Schloss zu Heiliggeistkirche. 

Als ich die Geschichte das erste Mal hörte, hätte ich beinahe meine Tasse Kamillentee umgeschüttet. „Kennst du etwa nicht den unterirdischen Gang vom Schloss herunter zur Heiliggeistkirche?“, fragte mich eine Bekannte. Den was? „Na den Tunnel vom Schloss zur Heiliggeistkirche!“ Ein ungläubiges Kopfschütteln überkam mich; ist das wieder so eine Heidelberger Geschichte, mit der man sich sein provinzielles Dasein groß reden will? Doch je mehr ich mit Bewohnern der Altstadt darüber sprach, desto überraschter war ich. Fast alle waren sich einig: „Klar, den Tunnel gibt’s!“ So kennt scheinbar jeder jemanden, der jemanden kennt, der wiederum einen Gewölbekeller in seinem Haus hat – und darunter führt natürlich der Tunnel entlang! Allein der Inhalt der Geschichten variierte: Einmal soll der Leibarzt des Kurfürsten ihn genutzt haben, dann der Kurfürst selbst, um sich in der Stadt inkognito Weingelagen hinzugegeben. Der Gang sei gar so groß gewesen, dass man ihn mit einem Pferd durchreiten konnte. Da war ich einfach sprachlos! Es gab nur eine Möglichkeit: Ich musste mich auf Tunnelsuche begeben.

Meine ersten Recherchefunde ließen mich noch ungläubiger werden: Die Legende von den unterirdischen Altstadt-Gängen geht bis ins 16. Jahrhundert zurück. In einer Chronik heißt es, dass der Zwerg Perkeo den Gang vom Großen Fass im Schloss aus genutzt habe, um unerkannt eine Weinstube aufzusuchen. 300 Jahre später, 1807, notierte sogar Joseph von Eichendorff in seinem Tagebuch: „Die Ruinen durchkrochen, sowie auch den unterirdischen Gang, der unter dem Neckar bis zum Heiligen Berge fortgeht.“ Der in Heidelberg lebende Ethnologe Hans-Peter Duerr fasste diese Mythen in einem 1999 erschienen Essay zusammen. Er stieg auch selbst in einen Keller hinab, doch weit kam er nicht. Was ihn aber nicht an der Existenz des Gangs zweifeln lässt.

So blieb ein Besuch des Heidelberger Stadtarchivs unerlässlich. Der dortige Archivar teilte gleich meine Skepsis. Die Geschichten kenne auch er, aber für glaubwürdig halte er sie nicht. Die Quellen im Stadtarchiv sind ebenfalls wenig aufschlussreich. Ich fand einige Zeitungsartikel, in denen sich Heidelberger Heimatforscher, mit einer Wünschelrute ausgestattet, unter die Erde begeben haben. Jegliche Funde von bislang unbekannten Hohlräumen werden dabei gleich als „ideale unterirdische Versorgungs- und Fluchtmöglichkeiten“ zum Schloss hin gefeiert, wie zuletzt in einem RNZ-Artikel im Juli 1997. Außergewöhnlich viele Berichte stammen aus den 1930er Jahren. Die Nazis waren scheinbar nicht nur auf der Suche nach germanischen Kulturgütern. Gefunden haben sie aber auch den ominösen Tunnel nicht. Enttäuscht von meinen bisherigen Ergebnissen, kann mir nur eine Heidelberger Institution bei der Recherche helfen: das Weinloch.

In der Unteren Straße gelegen, zieht es schon in den Mittagsstunden die ersten Alkoholbedürftigen an. Ein Ur-Heidelberger Lokal also. Beim Eintritt werden wir – ich musste mir Verstärkung mitbringen – von einer bombastischen Rauchwolke erfasst. Wir müssen uns so stark räuspern, dass wir vergessen, die Tür hinter uns zu schließen. Schon brüllt die Kellnerin, Elke ihr Name: „Ihr könnt auch gleich wieder gehen!“ Leicht verstört geben wir unsere Bestellung auf. Ich frage Elke, ob sie schon etwas von diesem Gang gehört habe: „Hajo, natürlich gibt’s den! Der geht los beim Großen Fass. Den bin ich selbst als kleines Kind schon einmal lang gelaufen!“ Elke weist uns an einen Tisch mit drei graumelierten alten Herren: Gerhard, Klaus und Fritz. Als sie von unserer Suche hören, fällt Fritz fast vom Stuhl: „Nein, nein! Den Tunnel gibt es nicht!“, schreit er. „Vom Schloss gibt es ein paar Kanäle, die in den Neckar führen, aber mehr ist da nicht!“ Und der Kurfürst konnte da nirgends lang? „Da hätte er den Helm runter nehmen müssen und hätt’ sich trotzdem den Kopf aufgeschlagen!“ Aber woher kommen denn diese ganzen Geschichten? „Maul halte!“ Danach bekommt Fritz einen minutenlangen Hustenanfall und wir machen uns echt Sorgen um ihn. Da hilft nur eine Weinschorle, und anschließend erzählen die drei Heidelberger Geschichten, über die wir am nächsten Morgen einfach nur staunen können. Allein vom Tunnel war keine Rede mehr.

Wieder nüchtern und vom Rauch befreit, treffe ich mich am nächsten Morgen mit dem Heidelberger Archäologen Achim Wendt. Er ist Leiter eines Büros für Denkmalpflege und hat schon einige Untersuchungen in der Kurpfalz angestellt. Meine Frage nach dem Gang beantwortet er unerwartet direkt: „Die Heidelberger erzählen immer, dass sich unter ihrem Keller noch ein weiterer befindet und der sei dann mit dem Tunnel verbunden – und das stimmt.“ Für einen kurzen Moment sehe ich mich am Olymp der Heimatforschung angelangt; kommt es jetzt zur Klärung des großen Heidelberger Mythos? Doch Wendt holt mich gleich wieder unter die Erde zurück: „Diese Tunnel unter den Kellern sind Latrinen. Sie existieren teilweise, so die archäologischen Befunde, seit 600 Jahren und bildeten das erste großangelegte Entsorgungssystem Heidelbergs.“ Aus Platzmangel konnte man die Latrinen nicht im Hof errichten, so wurde ein Schacht in den Kellerboden hineingebaut. Um dann die „Soße“ ablaufen zu lassen, verband man die Schächte mit einem Kanalsystem und leitete sie in den Neckar. Vom Schloss herunter tat man genau das gleiche. Die am Hang befindlichen Wasserquellen wurden zusätzlich für zwei Mühlen genutzt. Deren Wasser wurde zusammengefasst und lief ebenfalls über Kanäle ab. „Die großen Kanäle sind mitunter so groß, dass in ihnen ein kleiner Mensch rumlaufen kann. Aber nur zum alleinigen Zweck, dass sie diese säubern können. Ein Kurfürst ist da ganz sicher nicht entlang gelaufen.“

Ein wenig ernüchtert bin ich jetzt schon. Kein mystischer Gang, aber doch mehrere Tunnel und dann auch noch in der ganzen Altstadt verteilt. Heidelberg, du wirst auf ewig Provinz bleiben!

http://www.ruprecht.de/?p=6116

Veröffentlicht am 25. November 2014