Michael Brüggemann

Textchef, Schreibcoach und freier Autor, Mainz

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Reportage

Perfekte Grillwurst, wachsweiche Zeit

Erfinder Günther will der Mechanik ihre Sprache zurückgeben / Im Frankfurter Nordend werden Kindheitsträume zum Leben erweckt. (Porträt in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung)

Wenn Walter Günther die Augen schließt, kann er sie hören: erst leise schnaubend, dann laut ächzend, schließlich wie einen donnernden Vulkan. Die Dampflok der Hafenbahn, 170 Tonnen Stahl angeschoben von 3000 PS, war plötzlich nur noch eine Armlänge entfernt. Günther, der unter einer Brückendurchfahrt in Sachsenhausen stand, fuhr es durch Mark und Bein. „Der Klang der Ventile, das Drehen der Räder wie im Tanz – mir schossen die Tränen in die Augen, ich dachte ich explodiere.“ Die Mechanik der Maschinen begeistert den dreiundvierzigjährigen Schlossermeister. Abends nach Betriebsschluss tüftelt er in seiner schmalen Werkstatt im Nordend – den Kopf voller Ideen, die den Alltag schöner machen.

Aus dem Kellerhals schimmert schwaches Licht. Ein leises Schnaufen dringt hinauf in den Hof. Hinter der Stahltür keucht ein Stirling-Motor, das rhythmische Atmen der Kolben erfüllt den Raum. "Es hört sich an als hole er jedes Mal Luft", sagt Günther. Unter dem Motor brennt eine Spiritusflamme, darüber drehen sich Zahnräder paarweise und treiben ein Schwungrad mit Riemen an. Das Prinzip ist einfach: Luft wird abwechselnd erhitzt und abgekühlt, der Druck über den Kolben in Bewegung übersetzt. Aus einem langen, schwarzen Schlot steigt Wasserdampf. Was aussieht wie ein Dampfschiff, ist in Wahrheit ein Grill: Die „Günthersche Grillmaschine“. Die Würstchen stecken in 17 Gittertuben, jede einzeln aus Metall geschweißt. Gleichmäßig werden sie über der Kohle gedreht. Heraus kommt, so Günther, „die perfekte Wurst, von innen gegart und rundherum braun“.

Die Arbeit, die in solch detaillierten Erfindungen steckt, ist enorm: Über 2000 Stunden lang hat Günther skizziert, getüftelt, gebaut. Trotz all der Mühen brüten in deutschen Bastelkellern tausende einfallsreicher Köpfe wochenlang über ihren Ideen. Etwa 4000 freie Erfinder tauschen sich in bundesweit 155 Erfinderclubs aus. Ihre Innovationen sind eine wichtige Ressource für die Wirtschaft. Trotzdem werden Erfinder gerne als realitätsferne Tüftler abgestempelt. Neu und fremd erscheinen vielen ihre Visionen. Oft haben Erfinder es schwer, aus Ideen erfolgreiche Produkte zu machen. Denn die Umsetzung ist teuer – und Geldgeber rar gesät. Beate Treu, die das bundesweite Erfinderclub-Netzwerk „Insti“ leitet, kennt die Sorgen ihrer Klientel: „Viele Erfinder stehen vor einem Problem: Wie vermarkte ich meine Erfindung, an wen wende ich mich?“

Walter Günther kennt diese Sorgen nicht. Seine Erfindungen sind Unikate, unverkäuflich, mit viel Liebe zum Detail geplant. Die kleine Werkstatt im Nordend steckt voll von diesen Geistesblitzen. „Da sind so viele Dinge in meinem Kopf, die einfach raus müssen", entschuldigt sich Günther für die Unordnung. Auf der Werkbank türmen sich Feilen, Zwingen, Schraubstöcke und kleine Hämmerchen. Von der Decke hängen Handbohrer, Klemmen, Flugzeuge aus Metall. Dazwischen stapeln sich Günthers „kleine Helferlein“: dutzende wundersamer Geräte zum Biegen, Drücken, Bohren oder Knicken, mit denen er seinen Ideen Form verleiht. Werkzeuge, die es längst nicht mehr gibt. Oder nie gab, wie den selbstgebastelten Schmiedehammer mit Nähmaschinenantrieb.

Aus dem Kassettenrekorder klimpert Scott Joplin, die Legende des Rag-Time-Jazz. „Manchmal holpert es ein bisschen, aber das ist nicht schlimm.“ Günther liebt diese Musik aus alten Slapstick-Filmen, beim Hören, sagt er, dreht sich langsam die Zeit zurück: Laurel & Hardy, Charly Chaplin, der keuchende Takt der Maschinen, Backstein und Ruß. Seine Werkstatt ist eine Welt aus längst vergessenen Erinnerungen, Kindheitsträumen zwischen Pan Tau und Jules Verne. In der alten Mühle seines Großvaters, zwischen Bändern, Riemen und Speichen, entdeckte Günther früh seinen Forscherdrang. Schon als Achtjähriger baute er den Traktor seines Opas nach. Während einer Lehre als Maschinenschlosser packte ihn die alte Leidenschaft: „Eisen und Feuer haben mich immer fasziniert“.

Heute stöbert er stundenlang in Büchern: über die alten Ägypter, Leonardo da Vinci, die Zeit der Industrialisierung und der großen Entdeckungen, als die Mechanik noch sichtbar war. Er möchte die Dinge sprechen lassen, ihnen wieder Bedeutung verleihen. „Alles verschwindet in der Maschine – aber was ist es dann?“ Günther befreit die Mechanik aus ihrer Haut, legt sie frei und überlegt sich neue Nutzungen. Wie für die Kerze, die er als Wecker benutzt. „Damit kann man die Zeit wachsweich machen.“ Ein Metallbügel wird um den Stumpf gelegt und mit einem Gewicht beschwert. Pro Stunde brennen 21 Millimeter ab. Dann löst sich der Bügel und bringt eine Glocke zum Klingen. „Es ist eigentlich kein Wecken, sondern ein sanftes Erinnern.“ Ganz pragmatische Hilfe leistet dagegen der „Servietten-Willi“: Mit einem Draht-Arm werden die Servietten vom Stapel gepflückt, ohne dass man mit fettigen Fingern danach greifen muß.

Günther baut seine Erfindungen ohne Pläne, nur nach Skizzen, die er in ein schmales Heft oder in der Kneipe auf ein Blatt Papier gezeichnet hat. Viele Ideen entwickelt er aus dem Alltag, manche tragen ihm Freunde zu, andere entstehen aus purer Not. Als er einem Bekannten zum Geburtstag ein Stövchen schenken wollte und der Graveur die Platte verlegte, fing er selbst zu meißeln an – zum Schluss mit schmerzendem Handgelenk. So erfand er den „Freihandschreiber“, einen mechanischen Meißel, der sich mit einer Kurbel spielend leicht bewegen lässt. Die Kurbel setzt einen Hammer in Schwung, den Meißel selbst umhüllt ein Rohr, das mit der Hand geführt werden kann. Regelmäßig lädt er Kinder ein, die das „pickende Huhn“ mit großen Augen bestaunen – und sich ihre Namen in Metallplättchen eingravieren. Anleiten braucht Günther sie nicht: „Sie erkennen sofort wie das funktioniert.“

Dass er Ideen aufgreift, die es für einen anderen Zweck schon gibt, stört Günther nicht: „Völlig neue Dinge entstehen nicht. Erfinden heißt finden und sammeln“. Bis eine Erfindung sich durchsetzt, hat sie meist eine lange Entwicklung hinter sich. Und so versammelt sich hinter berühmten Erfindern eine Heerschar von Verkannten, Gescheiterten und Vergessenen. Pechvögel wie Karl Jatho (1873-1933), ein Beamter aus Hannover, der mit einem selbstgebauten Motor-Gleitflieger im August 1903 knapp 30 Meter weit hüpfte. Und doch schon bald in den Schatten der PR-tüchtigen Brüder Wright geriet, die vier Monate später ihre ersten Motorflüge starteten. Oder Konrad Zuse (1910-1995), der 1941 mit seinem Relaisrechner einen Vorgänger des PCs entwickelte. Während er seine Erfindung aus dem zerbombten Berlin nach Süddeutschland rettete und in einem Pferdestall versteckte, feierte die Weltpresse 1944 Howard H. Aiken und seinen Rechner Mark1.
Walter Günther will dagegen einfach nur weiterbauen, sein „eigenes Ding machen, so wie es zu mir passt“. Eine Vermarktung seiner Ideen kommt ihm nicht in den Sinn. „Ich könnte meinen Beruf aufgeben und meine Erfindungen verkaufen – aber was bleibt mir dann?“