Stand: 23.08.2021 08:10 Uhr
Seit 2015 sind laut Landesjugendamt 2.267 minderjährige afghanische Flüchtlinge nach Niedersachsen gekommen. Einer von ihnen ist Achmed in Göttingen. Er sorgt sich um seine Familie.
von Michael Brandt
Am 26. Januar 2015 ist Achmed nach Deutschland gekommen. Er kam alleine ohne seine Familie als sogenannter unbegleiteter minderjähriger Ausländer, als Flüchtling. "Das Datum weiß ich noch ganz genau und werde ich wohl nie vergessen", erzählt der junge Afghane am Rande einer Demonstration für die Aufnahme afghanischer Flüchtlinge in Göttingen. Achmeds richtigen Namen nennen wir zu seiner eigenen Sicherheit nicht. Im Alter von 15 Jahren kam er in Deutschland und bald in der Nähe von Göttingen an. "Ich gehörte zu den Leuten, die ihre Muttersprache nicht lesen und schreiben können. Das erste Mal Lesen und Schreiben habe ich in Deutschland gelernt", erklärt Achmed. Dann habe er Deutsch gelernt, seinen Hauptschulabschluss gemacht. Direkt nach den Sommerferien startete der heute 21-Jährige seine Ausbildung zum Koch. Heute arbeitet er in einer Schulkantine.
"Ich arbeite und mache immer was"Seinen Werdegang erzählt der junge Afghane schon mit ein wenig Stolz. Das merkt man ihm an. Aber Achmed möchte auch nichts beschönigen. "Ich arbeite und mache immer was. Solche Leute gibt es hier nämlich auch. Sie kommen hierher und wollen arbeiten, ein normales Leben erreichen wie jeder andere hier", sagt er fast etwas rechtfertigend. "Denn Menschen sind nicht immer gleich. Und ich möchte hierbleiben, weil ich mich daran gewöhnt habe."
Seine Familie ist noch in AfghanistanAber Achmeds Thema ist nicht seine gelungene Integration. Sein Thema heute ist die alltägliche Angst - um seine Familie, die noch in Afghanistan ist. Der 21-Jährige ist der älteste von insgesamt sechs Brüdern in seiner Familie. Seine Brüder leben noch in Herat. Die Stadt im Nordwesten Afghanistans steht seit ein paar Wochen ebenfalls unter der Kontrolle der Taliban. Tagelang hat Achmed versucht, seine Familie zu erreichen, wie er berichtet. Mehrere WhatsApp-Nachrichten hat er geschickt, aber keine Antwort erhalten. Erst diese Woche kam dann eine Antwort, erzählt er: "Sie haben mir kurz geantwortet und gesagt, dass sie keinen Strom haben, kein Wasser und daher auch keinen Akku, um das Handy zu nutzen." Achmeds gesamte Familie in Afghanistan besitzt nur ein einziges Handy. Momentan versuche seine Familie, irgendwie aus Afghanistan zu verschwinden, berichtet er.
Angst vor EntführungenDenn Achmed befürchtet, dass seine jüngeren Brüder entführt werden könnten. Sie seien noch im Kindesalter. "Weil ich in Europa bin, denken die Leute, ich habe hier viel Geld." Aber um Lösegeld zu bezahlen, dafür verdiene er nicht genug: "Ich bin hier nur ein Auszubildender."
Jugendliche liegen nachts wachWie es Achmed geht, kann Mostafa Azim gut nachempfinden. Der 36-Jährige ist in Afghanistan geboren und kam mit 12 Jahren nach Deutschland. Er arbeitet heute als Dolmetscher bei der Jugendhilfe Südniedersachsen vor allem mit afghanischen Jugendlichen. "Ich habe Jugendliche, die wirklich die Nächte wach liegen und die Live-Feeds anderer bei Instagram und Facebook verfolgen."
Experte: Sicherheit, Geborgenheit und Stabilität sind wichtigAchmed schaut derzeit nur selten Nachrichten. "Wenn ich die Nachrichten höre, dann bereitet mir das Kopfschmerzen und Alpträume." Solche Reaktionen kennt auch der Neurologe und Psychiater Martin Begemann von seinen Probanden. Der Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für Experimentelle Medizin in Göttingen hat über viele Jahre mehr als 100 Geflüchtete interviewt und steht noch mit vielen in Kontakt. "In solchen Situationen ist es wichtig, den jungen Menschen das Gefühl von Sicherheit, Geborgenheit und Stabilität zu vermitteln", sagt Begemann.
Gedanke an Abschiebung "verursacht Todesangst"Abschiebungen nach Afghanistan würde Begemann daher derzeit für fatal halten. Zurzeit sind sie ausgesetzt. Begemann warnt davor, Abschiebungen auch nur in den Raum zu stellen. "Das verursacht bei den Betroffenen Todesangst, eine existenzielle Bedrohung." Davon sollte man die jungen Menschen wirklich fernhalten, so Begemann.
Zurück nach Afghanistan? Ein SchreckensszenarioFür den gläubigen Muslim Achmed wäre eine Rückkehr nach Afghanistan ein Schreckensszenario - gerade jetzt, während die Taliban im Land die Oberhand gewinnen: "Was die da im Namen der Muslime machen, das ist gar nicht in Ordnung. Die nutzen einfach nur den Namen von Muslimen und machen ihren eigenen Mist. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass ich dorthin gehe und überlebe, weil ich den Mist nicht mitmachen würde. Und wenn ich bei ihnen nicht mitmache, dann werden sie mich umbringen." Achmeds Stimme wird etwas leiser, seine Augen leicht glasig, aber keine Träne ist zu sehen.
Dieses Thema im Programm:
NDR 1 Niedersachsen | Regional Braunschweig | 19.08.2021 | 15:00 Uhr Schlagwörter zu diesem Artikel