Der syrische Autor Yassin al-Haj Saleh lebt seit Jahren im Exil. Doch die Flucht hat ihm nicht nur seine Heimat genommen, sondern auch sein Leben.
"Viele sagen, die Situation in Syrien sei so kompliziert", sagt Yassin al-Haj Saleh. "Manchmal habe ich das Gefühl, sie wollen sagen: Es ist so kompliziert, also warum sollten wir uns kümmern?" Vielleicht ist es genau das, wogegen der Schriftsteller so unermüdlich anschreibt.
Es stimme zwar, sagt Saleh: Die Situation in Syrien ist kompliziert. «Doch das sollte gerade für uns Intellektuelle und Akademiker ein Weckruf sein, neue Ansätze zu entwickeln, wie wir mit Komplexität umgehen, die nicht nur auf Syrien begrenzt ist. »
Er sitzt in seiner Wohnung in Berlin, wegen der Corona-Pandemie haben wir uns über Zoom verabredet, um über Syrien zu reden. Saleh ist einer der bekanntesten zeitgenössischen syrischen Schriftsteller und politischen Denker. 2017 erschien die englische Übersetzung seines Buchs «Die unmögliche Revolution»: ein Werk, bestehend aus Artikeln, die er in den gut zwei Jahren zwischen dem Ausbruch der Revolution 2011 und seiner Flucht in die Türkei 2013 geschrieben hatte. Analysen, die die Natur des Regimes sezieren, das jede Opposition auslöscht, und die den Verlauf von den friedlichen Protesten bis hin zur teilweisen Radikalisierung aufzeichnen.
Mit der syrischen Revolution, so sein zentraler Gedanke, sei etwas geschehen, was unmöglich schien: dass die Syrerinnen und Syrer die Reflexe der Angst und die Mauer des Schweigens durchbrechen, mit denen das Regime sie jahrzehntelang kontrolliert hatte.
Als die Revolution ausbrach, die mehrheitlich von jungen Menschen getragen wurde, war Saleh bereits fünfzig Jahre alt und hatte für seine Gegnerschaft zum Regime viel bezahlt. Er war als Mitglied der kommunistischen Partei schon als 19-Jähriger verhaftet worden. 16 Jahre verbrachte er im Gefängnis. Dennoch schloss er sich fast umgehend den Aufständen an, als sie 2011 begannen. Nach ein paar Wochen ging er in den Untergrund – um «ohne Selbstzensur» schreiben zu können, wie er heute erzählt.
2013 musste Saleh fliehen, zunächst in die Türkei. Seit über drei Jahren lebt er nun in Berlin, wo er neben seiner Schriftstellerei an einem Projekt zu Genozid und Massenmord am Wissenschaftskolleg arbeitet. Doch auch sieben Jahre nach seiner Flucht ist er innerlich noch immer in Syrien: «Alles in meinem Leben dreht sich um meine verschollene Frau, meine verschollenen Freunde, mein Land. Ich habe nichts Persönliches mehr. Alles ist politisch.»
Als Saleh Syrien verliess, blieb seine Frau, die Menschenrechtsaktivistin Samira al-Khalil, in der damals belagerten Enklave Ost-Ghuta nahe Damaskus zurück. Eigentlich, so war ihr Plan, hätte sie später nachkommen sollen – doch dazu kam es nicht. Im Dezember 2013 wurde sie zusammen mit drei anderen Aktivistinnen und Aktivisten vermutlich von einer der islamistischen Milizen entführt, die in der Stadt Duma die Kontrolle hatten.
Die vier sind bis heute verschollen. Dass er damals das belagerte Gebiet alleine verliess, bezeichnet Saleh als den grössten Fehler seines Lebens. «Samira und ich sind eine Familie. Entweder hätten wir bleiben oder gehen sollen – aber auf jeden Fall zusammen.»
Man spürt die immense Verzweiflung um den Verlust seiner Frau, der Liebe seines Lebens. Seit ihrem Verschwinden habe für ihn der Satz «Das Private ist politisch» entscheidend an Bedeutung gewonnen. Die Wendung stammt ursprünglich aus der Frauenbewegung. Für Saleh bedeutet Samiras Verschwinden nicht nur, dass ein Teil von ihm noch immer in Syrien ist. In ihrer Abwesenheit sei er in gewisser Weise zu Samira geworden.
Als jemand, der aus seinem Land fliehen musste und in dieses Leben im Exil gezwungen wurde, ist das Private zwangsläufig politisch, wie bereits Hannah Arendt in ihrem Aufsatz «Wir Flüchtlinge» beschrieben hat. Fast 30 Prozent der syrischen Bevölkerung lebt heute ausserhalb von Syrien. Der Krieg hat die grösste Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst. Saleh und seine Geschwister leben heute verstreut in mehreren Ländern – eine Erfahrung, die sie mit fast allen syrischen Familien teilen. Das Leben in der Diaspora sei zu einem Teil der kollektiven syrischen Identität geworden.
Sein Exil in Berlin erinnert ihn aber auch an seine Zeit im Gefängnis. Während man im Gefängnis daran gehindert werde, nach Hause zu gehen, so sei ihm im Exil verwehrt, in seine Heimat zurückzugehen.
Er wolle seine Zeit im Gefängnis nicht romantisieren, sagt er. Im ersten und letzten Jahr sei er gefoltert worden. Das Regime habe versucht, ihn zu brechen. Doch dazwischen war es ihm möglich, Bücher zu lesen, ja sogar Englisch habe er gelernt. Natürlich sei er gefangen gewesen. Daran konnte er nichts ändern. Doch er habe damals gelernt, sich aus inneren Gefängnissen zu befreien und intellektuell zu wachsen. Als er in den neunziger Jahren aus dem Gefängnis entlassen wurde, fing er an zu schreiben.
Auch jetzt hat er trotz seiner Trauer nie resigniert. Bis heute veröffentlicht er politisch-philosophische Analysen über Syrien und den Nahen Osten. «Ich arbeite, um meinen eigenen Verlust und jenen meiner Mitbürger zu verarbeiten», sagt Saleh. «Ich versuche, unsere Verluste in Geschichten zu verwandeln, in öffentliche Diskurse, damit andere daran teilhaben können.»
Saleh wehrt sich auch gegen die Tendenz vor allem in der westlichen Öffentlichkeit, die syrischen Geflüchteten lediglich als Opfer zu sehen. «Die Syrer werden darauf reduziert, ihre tragischen Schicksale zu erzählen», sagt Saleh. «Doch die politische Fürsprache wird uns verwehrt, ebenso wie die politische und epistemologische und ethische Deutung der Geschehnisse in Syrien. Wir haben einzig die Freiheit, hilflose Opfer zu sein.»
Auch wenn er über die Zukunft Syriens spricht, will er hoffnungsvoll sein. «Ich versuche stets, mit zwei Augen auf die Situation zu schauen: einem realistischen und einem hoffnungsvollen.» Zum einen, sagt er, stehe das Land politisch vor einem verlorenen Jahrhundert. «Nach dem Massaker von Hama 1982 hat es dreissig Jahre, eine ganze Generation, gedauert, bis die Revolution ausbrach.»
Bei dem Angriff auf die Stadt Hama durch das syrische Regime, vermeintlich im Kampf gegen die Muslimbruderschaft, starben Zehntausende Menschen. «Jetzt wird es mindestens zwei oder drei Generationen brauchen, bis sich etwas verändern kann. Selbst wenn das Regime unter Bashar al-Asad einmal weg sein sollte.»
Seine Hoffnung legt er auf die syrische Bevölkerung, insbesondere die Diaspora. «Vor allem die jungen Menschen in Europa haben die Möglichkeit, zu lernen, sich weiterzuentwickeln. Wir Syrer haben etwas zu erzählen, das nicht nur für Syrien wertvoll ist, sondern für die ganze Welt.»
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