„Ich bin auf dem Weg nach Bagdad", schreibt Ali Amer Almikdam am 24. Oktober via WhatsApp. Am Tag darauf werden dort die Demonstrationen gegen die Regierung weitergehen. Erst zwei Wochen zuvor war der irakische Aktivist und Kunststudent nach Erbil in Irakisch-Kurdistan geflohen - nachdem Unbekannte sein Haus in Bagdad gestürmt und seine Einrichtung zertrümmert hatten. Er hatte erfahren, dass die Regierung nach ihm suchte. Am Telefon bedrohten ihn Unbekannte mit dem Tod.
Doch das hält Almikdam nicht davon ab, nach Bagdad zurückzukehren. Wie viele andere junge Iraker ist auch er entschlossen, das einzufordern, was die Demonstranten „ihr Recht" nennen: eine Regierung, die ihre Bürger respektiert, eine funktionierende Infrastruktur und Arbeitsmöglichkeiten.
Am 1. Oktober begann eine neue Protestwelle im Irak. Almikdam war einer von Hunderttausenden vor allem jungen Menschen, die auf die Straßen von Bagdad und vielen anderen Städten und Provinzen strömten, um gegen Korruption und für Perspektiven und eine funktionierende Versorgung zu protestieren. Dabei kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften: In den ersten Tagen nach Ausbruch der Demonstrationen am 1. Oktober wurden mehr als 6.000 Menschen verletzt, über 157 Menschen starben, schreibt die Nachrichtenagentur Reuters. Mittlerweile ist die Zahl der Todesopfer auf über 200 gestiegen.
Seit dem Ende des Krieges gegen den IS im Irak, im Dezember 2017, hat sich die Sicherheitslage im Land zwar verbessert: In Bagdad explodieren kaum noch Autobomben, Entführungen und Selbstmordanschläge sind seltener geworden. Gleichzeitig treten jedoch andere Probleme in den Vordergrund: In zahlreichen Vierteln Bagdads fällt der Strom fast alle zwei Stunden aus. Jeder vierte Jugendliche ist arbeitslos. Viele haben das Gefühl, von der Regierung unter dem parteilosen Ministerpräsidenten Adel Abdul-Mahdi, der vor gut einem Jahr sein Amt antrat und zunächst als säkularer Hoffnungsträger galt, im Stich gelassen zu werden.
Die Proteste der vergangenen Tage und Wochen gehören zu den größten seit dem Umsturz des Saddam-Regimes 2003. Im Vergleich zu früheren Demonstrationen fordern die Demonstranten heute keine Reformen mehr. Versprechungen der Regierungen waren schließlich kaum je erfüllt worden. Heute fordern die Demonstranten den Rücktritt von Adel Abdul-Mahdi und seiner Regierung und eine tiefgreifende Änderung des politischen Systems.
Die Konflikte im Irak sind komplex. Zum einen sind da ethnische: Im Norden des Landes gibt es die autonome Region Kurdistan, in der gut ein Siebtel der irakischen Bevölkerung lebt. Die Mitte und der Süden des Landes sind mehrheitlich arabisch.
Zum anderen gibt es religiöse Konflikte, vor allem zwischen sunnitischen und schiitischen Muslimen im arabisch besiedelten Teil des Landes. Nach dem Sturz des Saddam-Regimes 2003 wurde das politische System entlang religiöser Volks- und Religionsgruppen aufgebaut. Das sollte die Mitsprache und Beteiligung der verschiedenen Gruppen sichern - doch stattdessen führte es dazu, dass sich die politischen Parteien und Politiker persönlich bereichern konnten. Laut Korruptionswahrnehmungsindex der Organisation Transparency International ist der Irak heute eines der korruptesten Länder der Welt - auf Platz 168 von 180.
Die Proteste finden mehrheitlich im schiitischen Süden und in der Hauptstadt Bagdad statt. Dass vor allem Schiiten demonstrieren, die im Irak knapp die Bevölkerungsmehrheit stellen, wird aber nicht unbedingt als Zeichen einer weiteren Spaltung zwischen den Sunniten und Schiiten gelesen. Abdul-Mahdi, der als religiös moderat gilt, ist Schiiit, die Regierung ist ebenfalls von schiitischen Parteien dominiert. Es sind also ihre „eigenen Leute", die sich gegen sie erheben. Auch politisch verliert Abdul-Mahdi Rückhalt: Zwei der größten schiitischen Fraktionen im Parlament, angeführt von dem Geistlichen Moktada al-Sadr und Hadi al-Amiri, der vom Iran unterstützt wird, arbeiten nun gegen Abdul-Mahdi - vielleicht kommt es zu einem Misstrauensvotum. Und in den sunnitischen Landesteilen? Dort äußern manche Bewohner ihre Unterstützung, wagen sich aber selbst nicht auf die Straße. Zum Teil aus Angst, als IS-Anhänger diffamiert zu werden.
Die Demonstranten betonen, dass sie als Iraker und für den Irak auf die Straße gehen. Sie kämpfen für ein System, in dem sich die politische Führung an der Bevölkerung orientiert - derweilen versucht die aktuelle Regierung, die Demonstrationen mit Tränengas und Wasserwerfern zu beenden. Scharfschützen sollen auf Demonstranten geschossen haben. Am vergangenen Freitag und Samstag starben mindestens 74 Menschen. Die Demos werden noch viele Leben kosten, glaubt eine irakische Journalistin, die die Proteste begleitet. Sie ist sich aber auch sicher: „Die Leute werden nicht einfach wieder nach Hause gehen. Sie wissen, dann wird sich nichts ändern."
Mehr Infos darüber, warum es der irakischen Bevölkerung, Wirtschaft und Demokratie heute so schlecht geht, gibt es hier. Titelbild: Ahmad Al-Rubaye/AFP via Getty ImagesDieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.