Ja, es ist krank. Ja, es ist unverständlich. Aber dass ich einmal verstanden werden sollte, habe ich aufgegeben. Entweder habe ich mir den Mund fusselig geredet, oder die Klappe gehalten. Mit dem gleichen Resultat. Ich blieb unverstanden. Und dann kam er. Und das Ende vom Lied ist, dass noch viele kommen werden. In mir, auf mir, in mein Gesicht oder in meiner Studentenpussy. (Aus Lisas Tagebuch, 2016)
Alles beginnt mit Daddy. Sie sieht ihn zum ersten Mal im schummrigen Licht des Swingerclubs. Bauch, Vollbart, Glatze. Lisa wirft ihm nur einen kurzen Blick zu. Alt findet sie den Typen. Im Gegensatz zu ihrem Ex-Freund, der sie an diesem Novemberabend begleitet, ein Surferboy mit blonder Mähne und Sixpack, eine kurze Liebe, die nur in den Sommer passte. In einen Satin-Bademantel gehüllt steht er neben ihr, so verloren, als hätte ihn eine Welle versehentlich in den Club gespült. Lisa hatte sich schon gedacht, dass er hier zwar seine Neugier, aber nichts anders befriedigen werde. Sie dagegen liebt diesen Ort, seit sie sich ihr moralisches Korsett auf der Spielwiese zum ersten Mal vom Körper rieb. Sie mag den Geruch der Körperflüssigkeiten auf schmierigen Laken. Als sie Richtung Nebenzimmer nickt, schüttelt ihr Surferboy nur den Kopf. Während er mit einem Joint zwischen den Lippen zur Go-Go-Stange tänzelt, verschwindet sie.
Auf den Matratzen schärfen sich ihre Sinne. Es ist wie in einem Tunnel, der die Reize kanalisiert. Sie spürt die Haut fremder Menschen. Sie fühlt Stoppeln des rasierten Venushügels der blonden Frau auf ihrer Zunge. Sie spürt plötzlich von hinten einen Penis, warm, einnehmend, so anders. Sie dreht ihr Gesicht, und erkennt den Mann mit Glatze. Ihre Blicke treffen sich - und lassen sich nicht mehr los. Für eine Sekunde ist alles wie eingefroren. Rückblickend, so beschreibt Lisa diese Szenen, war das der Moment, in dem sie sich verliebten. Doch bevor sie sich küssen, drückt sie der Mann, den sie bald Daddy nennen wird, zurück auf die Matte.
Das war vor vier Jahren. Lisa studierte noch Realschullehramt, wohnte in Mannheim in einer Ein-Zimmer-Bude. Heute, 26 Jahre alt, leitet sie zwei Luxus-Escort-Agenturen, lebt in einer Dachgeschosswohnung in Frankfurt und fährt Mercedes. Zuvor jettete sie als Escort sie in Privatflugzeugen nach Buenos Aires und in die Antarkis. Schlief mit Männern für mehrere hundert Euro die Stunde. Sie sagt, sie war noch nie so glücklich. Auch wegen des Geldes. Aber vor allem, weil sie endlich sein kann, wer sie ist.
Sex mochte sie schon immer. Das erste Mal an ihrem 13. Geburtstag. Später schlief sie mit anderen Partnern, mit Bekannten, mit Fremden. Und seit Daddy auch für Geld. Wenige Wochen nach dem Kennenlernen im Club schläft sie mit ihrem ersten Kunden. Daddy ermutigt sie. Ihr heimlicher Traum, ihren Körper für Geld zu verkaufen, soll nicht nur Fantasie bleiben. Daddy hört aus dem Nebenzimmer mit. Für beide ist das nur ein gemeinsames Vorspiel, für später. Lisa aber möchte weiter gehen. Wissen, wo ihre Grenzen liegen. Und ob es die für sie überhaupt gibt.
Sie geht in Frankfurt auf den Strich. Nur für einige Tage, „Praktikum“ nennt sie das. Reflektoren, wie sie normal an Fahrradspeichen hängen, kleben hier an Bäumen oder Straßenmasten. Auf dem Parkplatz um die Ecke liegen benutzte Taschentücher und Kondome. Die Frauen, die hier stehen, tragen weiße Overknee-Stiefel und kurze Röcke, manche Jeans. Lisa sagt, man sehe ihnen an, dass sie mehr in ihre Gummis investieren, als in ihre Outfits. Sie selbst sucht sich einen Platz an einem hüfthohen Stein am Straßenrand. Fortan nennt sie sich, wenn sie ihren Körper verkauft, Laureen Stein.
Daddy wartet im Auto, hört mit dem Handy mit, auch zur Sicherheit. Als einige Tage später Mitglieder eines Rockerclubs auftauchen, verhindert er Schlimmeres. Laureen hatte die Warnungen, ihr Revier zu verlassen, ignoriert. Sie drohen ihr mit Schlägen. Das Praktikum ist vorbei, das Spiel ist es nicht.
Statt auf den Strich, geht sie ins Laufhaus. Im Roten Haus in Frankfurt bucht sie ein Zimmer, für 150 Euro am Tag. Die meisten Menschen hier in der Taunusstraße gleichen den mehrstöckigen Häusern: Sie sehen älter aus, als sie sind, und beim Vorbeigehen riechen sie nach getrocknetem Urin. Um nicht schon auf der Straße angesprochen zu werden, kommen die Frauen in Jogginghose zur Arbeit. Das Laufhaus im Bahnhofsviertel bietet 67 Zimmer auf sechs Etagen - und etwas Sicherheit. In der Mittagspause bringt der Türke von nebenan den Frauen einen Döner. Zagros ist ein kleiner, untersetzter Mann mit Halbglatze und rundem Gesicht, der Lisa bis zu den Schultern reicht. „Uuund, wieviele hattest du heut‘?“, fragt er, wenn sie sich sehen, als sei es das normalste Geschäft der Welt. Er verkauft Döner, Laureen ihren Körper. Und sie verkauft so gut, dass man sie bald die „Königin“ nennt.
Die Strichkunden sind Laufkundschaft. Sie shoppen wie Männer es eben tun. Wie beim Hosenkauf wissen sie vorher nicht, ob es eine Jeans-, Cord-, oder Stoffhose sein soll. Sie wissen nur, sie soll zwei Beine haben und sie wollen reinpassen.
Wenn sie keine Lust auf Kunden hat, schreibt sie an ihrer Hausarbeit für die Uni. Abends geht sie nach Hause, andere Frauen, die sich eine weitere Miete nicht leisten können, sind ganz hier hin gezogen. Sie wickeln Handtücher um ihre Oberschenkel, um die Männer weniger zu spüren. Sie spannen Folie über die Matratzen, auf denen sie nachts schlafen.
Es ist kein Hobby und keine Liebelei. Es ist das Leben der Frauen. Es wird nicht gefragt, ob sie Hunger, oder ihre Tage haben. Ihre Sorgen drehen sich nicht darum, schön auszusehen, oder lustige Kunden kennenzulernen. Sie haben Angst um ihre Familie, oder um sich selbst, oder um ihren Körper. Es ist zwar wunderbar, Laureen zu sein; andererseits ist es unbezahlbar, Lisa zu sein.
Nach einer Woche Laufhaus hat sie genug und bewirbt sich bei einer Escort-Agentur. Hier sind die Kunden anders, ihnen geht es nicht nur um schnellen Sex. Sie zahlen dafür, dass Laureen einen Slip mit Brennnesseln, die High-Heels der Ex-Freundin oder ein Pinguin-Kostüm trägt. Sie zahlen, um Laureen mit Frischhaltefolie an den Tisch zu binden, oder um sie in einem Hotelzimmer zu würgen, während die Ehefrau via Skype dabei zusieht. Sie bezahlen Laureen für Sex im Privatjet oder für einen Kurztrip nach London. Sie bezahlen für AO – alles ohne Kondom, für SZK – Sperma-Zungenküsse, oder für FT – französisch total, Oralverkehr mit Schlucken. Manche zahlen aber auch nur für ein offenes Ohr. Viele sind einsam. Laureen kann gut zuhören. Viele, die sie einmal buchen, buchen sie wieder.
Zu Weihnachten kauft Lisa ihrer Mutter Karin (*Name geändert) eine Calvin Klein-Handtasche. „Man könnte meinen, du gehst anschaffen“, sagt sie. Lisa weiß nicht, was sie antworten soll. Einige Tage später besucht ihre Mutter sie in Mannheim und Lisa will nicht mehr lügen. „Es war so komisch, plötzlich ein Geheimnis vor ihr zu haben“, erzählt sie. In einem Café sagt sie zu Karin: „Mama, wir müssen jetzt mal ein Gespräch unter Freundinnen führen, nicht als Mutter und Tochter.“ Karin denkt an Drogen, oder an eine Schwangerschaft. Und hat gleichzeitig Mitleid mit ihrer Tochter, die, eigentlich nie auf den Mund gefallen, plötzlich so gar nicht weiß, was sie sagen soll. Karin ist verletzt, dass sich ihre Tochter erst jetzt anvertraut. „Mit Vertrauen hatte das nichts zu tun“, sagt Lisa. „Ich hatte Angst, dass sie glaubt, sie habe in der Erziehung etwas falsch gemacht. Dass sie an irgendwas Schuld ist.“
Karin ist heute 48 Jahre alt und lebt mit ihrem Lebensgefährten in einem Vorort von Darmstadt. Wenn Lisa sie im Reihenhäuschen ganz am Ende der verkehrsberuhigten Straße besucht, halten sie sich lange im Arm. Dann kocht Karin Tee mit Ingwer und stellt Schokolade auf den Tisch. Sie hat weiche Gesichtszüge, trägt die Haare zu einem Pferdeschwanz, und wenn sie lacht, kneift sie ihre Augen kurz zusammen. Karin zog Lisa alleine groß. Mit 21 Jahren wird sie im Jura-Studium schwanger, ihr Freund zeitgleich psychisch krank. Sie zieht in eine Wohngemeinschaft mit anderen studierenden Müttern. „Ich frage mich schon, ob heute etwas andere wäre, wäre Lisa in einer normalen Ehe aufgewachsen“, sagt sie.
Ganz langsam tastet sie sich an Lisas neues Leben heran. Zunächst stellt sie wenig Fragen, sie hat Angst vor den Antworten. Über die Kunden will sie nichts hören. Vor Männern, die sich Frauen kaufen, empfindet sie nur Verachtung. Und um Lisa sorgt sie sich. „Ich hatte immer das gängige Bild der Prostituierten vor Augen, die das macht, aus Mangel an Alternativen“, sagt sie. Sie habe erst verstehen müssen, dass Lisa anders ist. Dass sie gerne das macht, was andere müssen. „Ich will mich nicht dafür entschuldigen, dass es mir Spaß macht“, sagt Lisa. Sie sei doch die Starke im Hotelzimmer, nicht der Kunde. Sie spiele eine Rolle, der Mann sei er selbst. Nicht er habe die Macht über sie – es sei gerade anders herum.
Ich gebe keine Angriffsfläche. Du kannst mich und meine Gedanken nicht so zerlegen wie ich deine. Ich bin mir sicher, egal wie oft ich mich ausziehe – nackt werde ich, im Gegensatz zu den Männern, niemals sein. Bin ich ein Opfer, wenn ich Männer durch Lügen und Schauspiel dazu bringe, mich vögeln zu wollen?
Lisa habe schon immer die Extreme geliebt, erzählt Karin. Als Kind fing sie an zu reiten und sollte sie sich im Stall ein Pferd aussuchen. Sie zeigte auf Mira, eine Stute, unkontrollierbar, zu der sich niemand mehr in die Box traute. Sie wollte aber kein anderes. Irgendwann ritt Lisa auf ihr Turniere. „Wenn die sich was in den Kopf gesetzt hat…!“, sagt Karin. Als Jugendliche fand sich Lisa zu dick, also hungerte sie. Als sie einsah, dass sie krank ist, bekämpfte sie genauso diszipliniert die Magersucht, wie zuvor die Kilos. Nun verkauft Lisa ihren Körper. Elke sagt, sie werde nie verstehen, warum ihre Tochter so ihr Geld verdient. Natürlich finde sie das nicht gut. „Aber ich habe gelernt, es zu respektieren, weil meine Tochter glücklicher ist, als zuvor.“
Die Zweifel der anderen sind Lisas Begleiter. Das kann doch keinen Spaß machen, das hört sie eigentlich immer. Inzwischen ist sie daran gewöhnt, aber vor allem genervt. „Es ärgert mich, wenn man mich als Person und meine Leidenschaft zu dem Job infrage stellt.“ Sie verstehe zwar, dass es unglaubhaft klingt, dass es viele nicht verstehen können. „Aber ich mache das wirklich gerne, Punkt!“ Der Punkt wirkt eher wie ein Ausrufezeichen. Ihre Stimme, sonst immer mit fröhlicher Melodie, wird hart und gerade.
Ein bisschen wirkt es, als sei dies ihr größter Kampf. Ernst genommen zu werden. Sich rechtfertigen zu müssen, immer wieder. Die Frage, warum sie so ist, die kann auch Lisa für sich nicht beantworten. „Ich habe mir anfangs schon Gedanken gemacht, ob ich nicht einen Oberschatten habe, weil ich es cool finde, diesen Job zu machen.“ Es sei auch für sie ein Lernprozess gewesen, sich so anzunehmen. Das habe sie Mut gekostet. Für andere Frauen könne und wolle sie nicht sprechen. „Ich komme manchmal aus dem Hotelzimmer und denke mir – ey, was für ein Freak, aber jemand anderes wäre in der Situation vielleicht zerbrochen.“
(...)
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