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Die Folgen des Ausnahmezustandes

Die Notstandsmaßnahmen in Frankreich stigmatisieren Muslime als potentielle Terroristen. Das kommt dem »Islamischen Staat» (IS) gelegen, denn die dschihadistische Terrormiliz hat neue Rekruten bitter nötig.


Vier Monate ist es nun her, dass Attentäter im Großraum Paris jene islamistischen Anschläge verübten, die insgesamt 130 Menschen das Leben kosteten. Organisiert und koordiniert wurden die Anschläge vom "Islamischen Staat" (IS) in Syrien und dem Irak. Ausgeführt wurden sie jedoch von zumindest größtenteils belgischen und französischen Staatsbürgern. Der Terror im Herzen Frankreichs traf die Republik tief und versetzte das Land in einen Schockzustand.

Präsident Francois Hollande wertete die Anschläge als kriegerischen Akt und reagierte seinerseits mit einer Kriegserklärung an den "dschihadistischen Terrorismus". Schnell wurde deutlich, dass die französische Kriegsführung keineswegs nur Luftangriffe auf IS-Stellungen in Syrien vorsah. Auch im Inland kündigte Frankreich ein hartes Durchgreifen gegen Islamisten an und verhängte einen Ausnahmezustand, der den Behörden umfassende Befugnisse einräumte.

Zu den Notstandsmaßnahmen zählen nächtliche Wohnungsdurchsuchungen, die nun auch ohne richterlichen Beschluss erfolgen können. Ebenfalls möglich ist, mutmaßliche Gefährder der öffentlichen Sicherheit und Ordnung auf unbestimmte Zeit unter Hausarrest zu stellen. Laut offiziellen Angaben hat die Polizei auf Grundlage dieser Regelungen mittlerweile mehr als 3.400 Wohnungen durchsucht. Zwar wurden fast 600 Gesetzesbrüche konstatiert und gerichtliche Verfahren eingeleitet, die Zahlen sind jedoch irreführend. Eine Zwischenbilanz nach drei Monaten Ausnahmezustand hat ergeben, dass nur die allerwenigsten Anklagen im Zusammenhang mit Terrorismus standen. Den Bärenanteil stellten Drogendelikte. Auch von der Präventivmaßnahme des Hausarrests wurde seit den Anschlägen fast 500 Mal Gebrauch gemacht.

In der französischen Medienlandschaft ist vor allem der Radiosender France Culture darum bemüht, den Betroffenen eine Stimme zu geben. Dort berichtet etwa Ali aus der Pariser Banlieue von seinen Erfahrungen mit dem französischen Ausnahmezustand. Seit drei Monaten stehe er nun unter Hausarrest, müsse sich dreimal täglich auf dem örtlichen Polizeirevier melden und verbringe dadurch den Großteil seiner Zeit in seiner 39 Quadratmeter großen Wohnung. Der Geheimdienst stuft ihn als Person aus dem Umfeld eines radikalen Imams ein.

Er selbst bestreitet die Vorwürfe zwar, muss aber dennoch deren Konsequenzen tragen: "Das Knifflige an diesen Hausarresten ist eben, dass du eigentlich gar nicht verurteilt wirst. Im Strafregister steht nichts geschrieben und doch wirst du bestraft", erzählt Ali. "Meine Situation ist sehr frustrierend und demütigend." Bis heute wisse er nicht, warum er eigentlich unter Hausarrest stehe. "Da frage ich mich natürlich: Was ist denn anders an mir? Klar, ich trage einen Bart. Ich bin Muslim. Aber was ist daran ein Verbrechen?"

Die Hausarreste erlauben Polizei und Geheimdienst, die aktive Überwachung auf einige wenige Zielobjekte zu beschränken, ohne andere potentielle Täter aus den Augen zu verlieren. Für Menschen wie Ali bedeutet das, aufgrund von Herkunft oder Religionszugehörigkeit als potentieller Terrorist eingestuft zu werden. Einmal als mutmaßliche Gefahr für die innere Sicherheit klassifiziert, ist man der staatlichen Repression quasi hilflos ausgeliefert.

Gerichtlich gegen einen verhängten Hausarrest vorzugehen, ist in den seltensten Fällen erfolgreich. Denn die Hausarreste erfolgen auf Grundlage geheimer, anonymisierter Notizen des Geheimdienstes, sogenannte "notes blanches". Die dort enthaltenen Informationen sind - allein schon aus Gründen der Geheimhaltung - nicht weiter zu belegen. Wenn also bei Ali der Vorwurf erhoben wird, zum Umfeld eines radikalen Imams zu gehören: Wie könnte er vor Gericht das Gegenteil beweisen? Wie soll er glaubwürdig gegen eine Anschuldigung argumentieren, die von der Beweispflicht entbunden ist?

Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch und Amnesty International haben Anfang Februar 2016 Berichte veröffentlicht, die die im Rahmen des Ausnahmezustands von der Polizei ergriffenen Maßnahmen und damit einhergehende Menschenrechtsverletzungen dokumentieren. Augenzeugenberichte veranschaulichen die haarsträubenden Erlebnisse der Betroffenen. Während die Regierung eine Verfassungsreform forcierte, um den bisher per Dekret geregelten Ausnahmezustand zu konstitutionalisieren, bemühten sich beide Menschenrechtsorganisationen, dieses Vorhaben zu verhindern. Doch es gelang ihnen nicht, den politischen Diskurs in eine neue Richtung zu lenken.

Stattdessen stimmte das französische Parlament am 8. Februar 2016 mit großer Mehrheit für die Verfassungsreform mit dem Titel "Protection de la Nation". Derzeitig beschäftigt sich der Senat mit dem Änderungsentwurf, bevor er in einer gemeinsamen Sitzung beider Kammern endgültig beschlossen werden kann. Dann würde die Regierung mit erweiterten Befugnissen ausgestattet und könnte den Ausnahmezustand künftig auch ohne Zustimmung des Parlaments auf unbestimmte Zeit verlängern.

Zudem soll die Verfassungsänderung die Möglichkeit eröffnen, verurteilte Terroristen mit doppelter Staatsbürgerschaft auszubürgern. Damit würde Frankreich zu einer Zweiklassengesellschaft: Auf der einen Seite diejenigen mit doppelter Staatsangehörigkeit, denen man die französische entziehen kann. Und auf der anderen Seite diejenigen mit exklusiv französischer Staatsbürgerschaft, denen sie eben nicht entzogen werden kann. Am 17. März kippte der Senat diesen Beisatz des Änderungsentwurfs dann doch - zum Unmut des Präsidenten.

Die Zahl westeuropäischer IS-Rekruten hat sich seit Juni 2014 mehr als verdoppelt

Der IS ist schon seit langem darum bemüht, Zwietracht zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen zu säen, um sozial Ausgegrenzte für seine Botschaften empfänglicher zu machen. Dieses Vorhaben könnte für die islamistische Terrormiliz heute wichtiger sein denn je. Fakt ist: Der IS schwächelt. Nicht nur finanziell macht der syrische Abnutzungskrieg dem selbsterklärten Kalifat immer mehr zu schaffen.

Problematisch wird zunehmend auch der Mangel an willigen Kämpfern. Die Zivilgesellschaft flieht reihenweise aus den vom IS kontrollierten Gebieten. Berichte über desillusionierte Deserteure häufen sich. Gleichzeitig führt der Mangel an medizinischem Fachpersonal und Sachbedarf dazu, dass unter normalen Bedingungen behandelbare Verletzungen bei IS-Kämpfern zur dauerhaften Kampfunfähigkeit oder zum Tod führen.

Um den chronischen Mangel an kampffähigen Anhängern auszugleichen, dürfte das Anwerben ausländischer Rekruten besonders hohe Priorität besitzen. Laut einem im Dezember 2015 erschienenen Bericht (13) des Sicherheits-Beratungsunternehmens Soufan Group hat sich die Zahl westeuropäischer IS-Rekruten seit Juni 2014 mehr als verdoppelt. Allein aus Frankreich sollen bis Oktober 2015 etwa 1.700 Menschen ausgereist sein, um sich dem IS in Syrien und dem Irak anzuschließen.

Auch die Pariser Anschläge könnten im Kontext dieses Ressourcenmangels zu verstehen sein. Denn der IS hatte einen Erfolg bitter nötig, um seine Attraktivität für potentielle Rekruten zu steigern. Diesen Schluss zieht auch der US-amerikanische Soziologe und Religionswissenschaftler Mark Juergensmeyer: "Aber vielleicht ist es genau das, was die Pariser Anschläge erklären kann.", urteilt er auf seinem Blog. "Der IS ist verzweifelt. Er braucht einen Sieg, ein lebhaftes Zeugnis seiner Stärke, um die Moral seiner Unterstützer zu stärken, neue Rekruten anzulocken und mit ein bisschen Glück, sogar seine Feinde einzuschüchtern."

Für den IS sind die in Frankreich ergriffenen Maßnahmen in zweierlei Hinsicht als Erfolg zu verbuchen. Zum einen wertet die Kriegserklärung Hollandes den IS unumgänglich zu einem scheinbar würdigen Gegenüber auf. Zum anderen ist der von Frankreich eingeschlagene innenpolitische Kurs dafür prädestiniert, dem IS neue Anhänger in die Arme zu treiben, nicht zuletzt deshalb, weil der Staat kaum etwas dafür tut, gesetztestreue Muslime vor anti-islamischer Gewalt zu beschützen und sich "besorgte Bürger" sogar auf Regierungslinie wähnen können. Fast 430 islamophobe Übergriffe und Drohungen hat die "Interministerielle Delegation zum Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus" (DILCRA) im vergangenen Jahr in Frankreich gezählt - dreimal so viele wie im Vorjahr.

Eine dauerhafte Politik des Ausnahmezustands knüpft nahtlos an alte Versäumnisse an

In einem Interview auf dem Jahrestreffen des Weltwirtschaftsforums in Davos gestand Premierminister Manuel Valls gegenüber der BBC, dass der Krieg gegen den IS eine ganze Generation andauern könnte. Solange die Gefahr des islamistischen Terrorismus fortbestehe, müsse eben auch der Ausnahmezustand in Kraft bleiben. Derzeitig gibt es keinerlei Anzeichen dafür, dass der IS in näherer Zukunft von der weltpolitischen Spielfläche verschwindet.

Das heißt, dass in Frankreich eine gesamte Generation im Ausnahmezustand aufwachsen könnte und muslimische Jugendliche einem nie dagewesenen Grade von Stigmatisierung und "Racial Profiling" ausgesetzt wären. Dass der Ausnahmezustand Ende Mai ein weiteres Mal verlängert wird, ist eher unwahrscheinlich. Weitaus wahrscheinlicher ist dagegen, dass Parlament und Senat letzten Endes doch einen Kompromiss finden und der Ausnahmezustand in der Verfassung festgeschrieben wird.

Schon als die Pariser Banlieues im Oktober und November 2005 brannten, reagierte die Regierung wenig zimperlich und verhängte in Teilen des Landes den Ausnahmezustand. Als "Abschaum" und "Gesindel" hatte der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy die rebellierenden Jugendlichen meist nordafrikanischer Herkunft damals bezeichnet, und damit den Hass einer gesamten Generation auf sich geladen. Nach den Unruhen vermochte es die französische Politik nicht, den Gefühlen der Ablehnung, Isolation und Perspektivlosigkeit etwas entgegenzusetzen. Wenn Frankreich seinen aktuellen Kurs weiterfährt, knüpft es nahtlos an diese Versäumnisse an.


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