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Interview

"Literatur ist kein Leitmedium mehr"

Maren Lickhardt sieht gern fern. Das tut sie bis zu vierzehn Stunden am Stück, denn die Literaturwissenschaftlerin der Uni Innsbruck hat die gesellschaftliche Relevanz von Fernsehserien erkannt – und sie zum Steckenpferd ihrer Forschung gemacht. Im Gespräch erzählt sie, was wir beim Bingewatching lernen können.

Interview: Maximilian Eberle

Frau Lickhardt, über Sie liest man im Netz, dass Bingewatching Teil Ihres Berufs ist. Dabei sind Sie doch Literaturwissenschaftlerin?

Korrigieren wir das: Medienkonsum ist Teil meines Berufs. Dass ich lese, würde ja auch niemanden wundern. Ich habe schon als Kind meine Hausaufgaben vor dem Bildschirm gemacht und so ist auch meine Doktorarbeit oder aktuell meine Habilitation entstanden. Irgendwann habe ich das Fernsehen zusätzlich in meine wissenschaftlichen Betrachtungen einbezogen.

Und das machen Sie einfach nur so nebenbei?

Oft. Aber natürlich nicht immer. Wenn ich eine Serie entdecke, die wissenschaftlich wirklich interessant ist, setze ich mich schon mit einem Notizblock vor den Bildschirm und schaue aufmerksam zu. Manchmal fahre ich auch zweigleisig, dann liegt ein Block zum Roman und einer zur Serie auf der Couch. Wenn ich gründlich arbeiten will, schaue ich mir eine Serie dann so zehn bis vierzehn Stunden am Stück an.

Was macht die Serie für die Literaturwissenschaften so spannend?

Filme berücksichtigen wir schon lange in der Germanistik. Das besondere an Serien ist aber, dass sie narrativer funktionieren als ein Film. Die Serie hat mehr Zeit, um eine Geschichte zu entfalten. Dadurch ähnelt sie dem Roman. Die Kolleginnen und Kollegen der Filmwissenschaft behandeln die Serie eher stiefkindlich, die konzentrieren sich vielmehr auf das visuelle, was natürlich auch bei der Serie eine Rolle spielt. Aber für mich als Literaturwissenschaftlerin sind diese weiten Dimensionen der Erzählung so spannend, da ist alles so ausgefeilt, so umfangreich.

Was hat die Welt von Ihren Analysen?

Der Mehrwert liegt in erster Linie in der Masse der Analysen. Fernsehen/Streaming ist das Leitmedium unserer Zeit, mal abgesehen von sozialen Medien. Wie viele Millionen Menschen sitzen täglich vor dem Fernseher und streamen? Ich bin keine Verfechterin einer unmittelbaren Wirktheorie, ich sage nicht „man sieht das und dann wirkt das sofort auf die Menschen ein“, aber auf indirektem Weg prägt es den Horizont der Menschen weltweit, wenn sie alle das gleiche Angebot der Streamingdienste konsumieren. Deswegen ist es sehr wichtig, da mit einem analytischen Auge drauf zu schauen. Ich frage mal ganz ketzerisch: Was nützt denn das, den einen Lyrikband zu untersuchen, den nur wenige hundert Menschen gelesen haben? Das ist natürlich polemisch, ich liebe Lyrik, aber Literatur ist kein Leitmedium mehr.

Was kann man in Serien über die Gesellschaft lernen?

Serien setzen zum Beispiel politische Frames und inszenieren Bilder von Kapitalismus und Kommunismus. Das hat man doch schon in den Achtzigern gesehen, dass das neoliberale und konservative Amerika unter Reagan das Fernsehen geprägt hat. Da hat sich die ganze Vorstellung normalisiert, dass der Kapitalismus, der amerikanische Traum, die einzig wahrhaftige Lebensform sei. Auch Frauen-, Männer- oder Körperbilder werden ganz entscheidend: Da prägt uns das Visuelle der Serien doch viel mehr als die Literatur. Eine Studentin schreibt bei mir gerade eine Arbeit über Bodyshaming, wie das durch Serien angestoßen oder in Serien verhandelt wird. Ich glaube die Relevanz der Medienwissenschaft muss heutzutage nicht mehr erläutert werden.

Gelten Sie als Rebellin im alteingesessenen Literaturbetrieb?

Nein, ich mache ja auch traditionelle Sachen über Autoren aus dem 17. Jahrhundert. Das eine schließt das andere nicht aus. Rebellisch war vielleicht die Generation der Kultur- und Medienwissenschaftlerinnen vor mir. Ich renne da durch offene Türen und man lädt mich häufig auf Tagungen ein wegen meiner Serienforschung. Auch in Innsbruck wurden schon vor meiner Zeit viele Grundlagen geschaffen, damit ich heute frei forschen kann.

Sie schauen mit Ihren Studierenden auch japanische Comicfilme, sogenannte Animes. Ringen Sie damit um die Gunst der jungen Leute?

Ich als Wissenschaftlerin muss mir überlegen, was gesellschaftlich relevant ist und wie meine Forschung einen Beitrag dazu leisten kann, Kultur besser zu verstehen. Da achte ich auch nicht auf meine eigenen Interessen. Es ist schön, wenn meine Schwerpunkte auch die Studierenden ansprechen. Wenn ich in meiner Lehre mit ihnen Animes schaue, möchte ich zeigen, wie sehr wir in einer globalen Medienkultur angesiedelt sind. Wir schauen hier in Europa ein Genre, bei dem Menschen in Japan sagen würden, dass wir es nicht verstehen. Aber irgendwie verstehen wir es ja trotzdem. Eine japanische Serie, Death Note, bedient sich zum Beispiel der Ästhetik der Renaissance. Da findet gerade ein unglaublicher Kulturtransfer statt. Bisher war das immer so eine Einbahnstraße – von den USA zu uns. Jetzt bekommen wir aber durch Netflix & Co kulturelle Partikel aus der ganzen Welt auf den Schirm. Das finde ich wahnsinnig spannend.

Können Sie die Zeit vor dem Fernsehen überhaupt noch genießen, wenn Sie ständig analysieren?

Ich schöpfe das Vergnügen aus der Dekonstruktion! Für mich ist all das unterhaltsam, was ich wissenschaftlich fassen kann. Natürlich gibt es manchmal Serien, die mich packen, wenn sie schwere gesellschaftliche Themen behandeln oder spannend sind. Zuletzt schaute ich „Black Earth Rising“, eine Serie über den Völkermord in Ruanda. Das hat mich sehr mitgenommen. Doch in den meisten Fällen amüsiert mich die Analyse.

Wann haben Sie zuletzt bei einer Serie geweint?

Ich weine nicht vor dem Fernseher. Entweder ich schaue etwas nebenher oder ich mache konzentriert Notizen. Das führt eigentlich beides dazu, dass ich nicht allzu emotional werde. Ich habe bestimmt schon einmal vor dem Fernseher geweint, aber ich kann mich nicht daran erinnern.

Gerade im Lockdown wurde Bingewatching zur Volksbeschäftigung. Hat sich Ihr Konsumverhalten in der Krise überhaupt verändert?

Für mich macht der Lockdown beruflich nur einen sehr geringen Unterschied, ich kann ja sehr gut arbeiten und bin da in einer privilegierten Position. Natürlich vermisse ich meine Freunde, die Abstriche muss ich höchstens im Privatleben machen. Mir fällt auf, dass ich dadurch ein bisschen mehr als sonst schaue. Netflix hatte eine kleine Produktionslücke im vergangenen Frühjahr, gleichzeitig ist mein Konsum gestiegen. Da ging mir kurzzeitig wirklich der Stoff aus. Das habe ich kompensiert, indem ich wieder mehr Filme geschaut habe.

Oft heißt es, Serien-Nerds betrieben Realitätsflucht. Sind Sie eine Eskapistin?

Nein, ich bin ein sehr durchschnittlicher Mensch mit vielen sozialen Kontakten. Ich gehe gern mit Freunden in Kneipen, reise, und bin der Welt generell sehr zugewandt. Natürlich fallen bei mir manch andere Interessen weg. Sport mache ich zum Beispiel nur vor dem Fernseher mit meinem Rudergerät, so kann ich währenddessen weiterschauen. Ich brauche aber keinen See dazu, auch Spaziergänge langweilen mich. Früher hätte man mich wohl Stubenhocker genannt, heute eher Couch Potato. Ich frage mich aber, was einen Eskapisten überhaupt auszeichnet? Unsere Medienrealität ist doch sehr relevant und ein kulturelles Artefakt, das von Menschen geschaffen wird. Man könnte doch auch diejenigen als Eskapisten bezeichnen, die sich aus der Medienrealität fernhalten. Wer lieber allein wandern geht und auf diese Weise einen Bezug zur Welt entfaltet, der mag das ja gerne tun, aber möglicherweise ist diese Person auch ein Eskapist, weil sie sich von dem fernhält, was unsere soziale Lebensgrundlage prägt.

Um mit Elternsprech abzuschließen: Sie haben also noch keine viereckigen Augen?

Bei Kindern muss man vielleicht medienpädagogisch eingreifen, wenn sie zu viel fernsehen. Es ist sicher gut, wenn die ihre körperlichen und motorischen Fähigkeiten schulen und draußen Spielen genug Vitamin D tanken. Ich würde daher keine Empfehlung an Eltern abgeben, dass permanenter Fernsehkonsum nicht schadet, es ist immer eine Frage der Dosis. Auch ich war als Kind draußen, aber als Erwachsene gehört das Fernsehen zu meinem Lebensmodus und daran laugt mich auch nichts aus. Das ist wie Atmen für mich.

 

ZUSATZKASTEN

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Die Forscherin empfiehlt drei Serien, die auch traditionellen Leseratten gefallen werden. Weil sie Klassikern der Literatur so ähnlich sind.

 

Jane Austen und Bridgerton

„Bridgerton, ein Historiendrama über die Londoner High Society im Jahre 1813, birgt etliche Referenzen zu Jane Austens Romanen und bedient sich einer ganz ähnlichen Form des Empfindungs-, Ehe- und Liebesdiskurses. Die Serie wird gerade unglaublich gehyped und im weltweit Feuilleton ist man sich einig, dass es die neue große Sache ist. In Asien wollen Modemarken sogar die Kleidung der Serie aufgreifen. Es könnte sich also andeuten, dass man in Shanghai bald Samthandschuhe trägt. Geschmackssache, doch wer Jane Austens Werk liebt, der ist hier richtig.“

Braunschlag und der Mann ohne Eigenschaften

Wer Robert Musils Humor und seinen Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ schätzt, dem könnte auch David Schalkos ORF-Serie Braunschlag gefallen. Bei nur einer Staffel erfordert die Serie auch nicht allzu viel Bingewatching. Grundsätzlich geht es um Korruption und merkwürdige politische Aktionen. Was die beiden Werke in der Struktur vereint, sind die Katastrophen, in die sich die handelnden Personen durch eine Reihe von absurden Entscheidungen katapultieren. Man könnte deuten, dass das was in Braunschlag in einem niederösterreichischen Dorf im Kleinen passiert, bei Musil im Großen stattfindet, wenn er die Vorboten des ersten Weltkriegs skizziert.

Dérapages und Émile Zola

Dérapages (im Deutschen: Kontrollverlust) ist eine neue französische Serie, die mich sehr an die alten sozialkritischen Romane von Émile Zola erinnern. Die Serie erzählt von einem Mann, der nach langer Zeit in einer Firma seinen Job verliert, in die Armut stürzt und sich schließlich in kriminellen Machenschaften verstrickt. Auch Emile Zola beschreibt das Leben derer, die nicht vom Schicksal einer besseren Geburt bevorzugt werden. Dérapages ist ein typisch französisches Sozialdrama, das aktuelle gesellschaftliche Missstände kritisiert.