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Geteiltes Leid: Die Inszenierung psychischer Erkrankungen im Web

Im Februar 2017 fährt Timur mit der Straßenbahn zur Arbeit. Plötzlich verschwimmt seine Sicht, seine Haut brennt, er zittert. Überfordert steigt er aus, eine Freundin holt ihn mit dem Auto ab. Normalerweise könnte er die Strecke nach Hause zu Fuß gehen, doch in dem Moment fällt das Laufen schwer. Es ist das erste Mal, dass Timur eine Panikattacke erleidet.

Angst und Panik kehren in Episoden zurück. Sie erschweren Timurs Alltag, manchmal wird schon der Gang zum Supermarkt zur Herausforderung. Verlässt er das Haus, nimmt er eine Reihe von Gegenständen mit, die ihn beruhigen – darunter ein Ring mit integrierter Reißzwecke. Flutet die Panik an, pikst Timur sich damit in den Arm.

Weil er lange an eine körperliche Ursache glaubt, braucht es zwei Jahre, ehe er psychologische Hilfe sucht. Im Herbst 2019 bekommt er die Diagnose: Angststörung und Depressionen. Timur startet eine Therapie, die schnell Wirkung zeigt. Kurz darauf, im Jänner 2020, schreibt er auf Instagram: "Ich bin krank."

"Mir hilft es manchmal schon, wenn 20 andere auf ein Posting zurückschreiben, dass es ihnen ähnlich geht." Timur

Nicht nur Timur teilt seine Erkrankung im Netz. Youtuberinnen filmen sich bei Panikattacken, Blogger nutzen Instagram als therapeutische Schreibwerkstatt, und Teenies posten Fotos von leeren Tablettenblistern. Depressionen als Selfie-Material in sozialen Netzwerken – "Sick Style" nennt die Zürcher Trendforscherin Angel Schmocker diese Entwicklung. Während mentale Erkrankungen am Familientisch oft noch ein Tabu sind, werden sie online in allen Facetten präsentiert.

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