Geißler, inzwischen 33 Jahre alt, war im Sommer 2005 an den Bruchweg gewechselt. Damals noch glatt rasiert und eines der größten Talente der zweiten Bundesliga. Jürgen Klopp holte ihn von Wacker Burghausen, weil er in Geißler erkannt hatte, dass er „geil auf die Bundesliga" sei. War er auch. Durfte er aber nur 15 Mal zeigen, jedes Mal als Einwechselspieler. Die Konkurrenz auf Geißlers Position im zentralen Mittelfeld war einfach zu stark für den jungen Blondschopf aus Leipzig. Ein Jahr später verließ er die 05er leihweise in Richtung Erzgebirge Aue. „Ich bin gegangen, weil ich einfach mehr spielen wollte", sagt er heute. Elf Jahre nach seinem Abschied aus Mainz haben sich seine Prioritäten geändert, Fußball gespielt hat er schon lange nicht mehr. Ein einziges Mal, mit seinen Kumpels auf einem Bolzplatz, um genau zu sein. Seit jenem Grinsen im Frühjahr 2016 hat Geißler anderes zu tun.
Den Traum hatte er schon während seiner Profi-KarriereZum einen schreibt er Prüfungen. Geißler studiert Wirtschaftspsychologie an der Leipziger Hochschule, im Sommer steht seine Bachelor-Arbeit an. Neben dem Studium bestimmt vor allem sein Café seinen Alltag. „Franz Morish" hat er es getauft. „Franz als Hommage an eine gute Freundin, die ‚Franziska' heißt", sagt er. „Und ‚Morish' habe ich in einem alten englischen Wörterbuch entdeckt, es bedeutet einfach: ‚mehr'".
Geißler hat sich lange mit seinem Traum beschäftigt, er träumte ihn ja schon während seiner Profi-Karriere, die ihn übers Erzgebirge nach Osnabrück und Koblenz führte. Drei Jahre in Folge stieg Geißler mit seinen Vereinen aus der zweiten Bundesliga ab. Dann kehrte er heim nach Leipzig, kickte für den damals noch viertklassigen RB, ehe er noch einmal nach Jena ging und abschließend in die Oberliga. „Beim SSV Makranstädt habe ich eine Saison ordentlich abtrainiert", sagt er. Trainiert und geträumt. „Für mich war immer klar, dass ich nach dem Fußball etwas Eigenes machen will, etwas Kreatives."
So ein Café, wie er sich das vorgestellt hat, so eines gab es bis dato in der immer mehr gehypten Ost-Metropole nicht. Neben sieben Kaffee-Sorten aus Südamerika und Afrika bietet Geißler auch Essen an. „Superfood, viel zum Mitnehmen, alles mit sehr regionalen Zutaten." Auf seiner Speisekarte stehen Gerichte wie Rote-Beete-Salat, Overnightoats und Couscous.
Er grinste damals im leeren Raum aus mehreren Gründen. Seines Traums wegen, ja, weil er nach langer Suche eine geeignete Location gefunden hatte - und weil er sie komplett nach seinen Vorstellungen gestalten konnte. „Von der ersten Steckdose bis zur letzten Lampe habe ich alles selbst ausgesucht", sagt Geißler. Er hat eine riesige Holztheke mit Metall-Streben bauen lassen, hat Möbel mit Kaffeesatz eingeschmiert und aus einem alten Öltank mit LED-Leuchten eine Lampe gebaut. „Alles sieht sehr industriell aus." Zwei Maschinen ragen auch aus dem Interieur heraus: eine sündhaft teure Kaffeemaschine aus den USA, bei der man sogar den Wasserdruck einstellen und den Geschmack dadurch fruchtiger oder herber machen kann - „in Deutschland haben nur zwei andere Cafés so eine Maschine" - und der Trommelröster, der frei, mitten im Raum steht. „Damit jeder sehen kann, dass wir unseren Kaffee selber mahlen."
Genau das macht Geißler mit großer Freude. Am 23. März öffnete das Franz Morish, allein in den ersten vier Tagen röstete der ehemalige Fußball-Profi mehr als 60 Kilo Kaffeebohnen, die er zuvor nach etlichen Kostproben auserwählt hatte. Sein Know-How dazu hat er sich in Wien geholt. Kurz nachdem er seine Räumlichkeiten gefunden hatte, ließ er sich zwei Monate lang bei einem renommierten Kaffee-Professor (ja, so etwas gibt es) zum Kaffee-Sommelier ausbilden.
„In den ersten Tagen wurden wir quasi überrannt"In seiner Heimatstadt hat sich das schnell herumgesprochen. „In den ersten Tagen nach der Eröffnung wurden wir quasi überrannt", sagt Geißler. Dabei ist längst noch nicht alles perfekt in seinem neuen Projekt, die Prozesse müssen sich noch automatisieren, zusätzliche Mitarbeiter um sein Team zu komplettieren sucht Geißler auch noch. Obwohl das Franz Morish offiziell um 18 Uhr schließt, kommt er seltenst vor 20 Uhr aus dem Laden. Und muss sich dann noch um seine Uni-Sachen kümmern.
Doch all das macht er mit Leidenschaft, so „geil" er früher auf die Bundesliga gewesen sein mag, so ist Geißler es heute auf Kaffee. Ob ihm da sein altes Leben, der Fußball, so gar nicht fehlt? „Das Spielen fehlt mir, klar", sagt er. „Aber das ganze Drumherum war ja nie so mein Ding."
Ihm bleiben seine Erinnerungen. An den alten Bruchweg, „wo die Zuschauer ganz nah am Spielfeld waren und diese besondere Atmosphäre geschaffen haben", an die „Highlights meiner Karriere", als er im Uefa-Pokal in Frankfurt und Sevilla gegen den FC Sevilla auflief oder auf Island sogar ein Tor schoss - sein einziges im Trikot der 05er. Und die beiden Einsätze gegen Bayern München, „so etwas vergisst man nie", sagt Geißler.
Im Franz Morish verrät nur ein gerahmtes, schwarzes Trikot an der Wand hinter dem Tresen seine Verbindung zum Fußball. Ein Geschenk von einem lokalen Ausrüster, der Hobbyteams ausstattet. Darauf gedruckt ist das Logo des Cafés. Wie dieses ankommt, will Geißler in seiner Bachelor-Arbeit erforschen. Dann setzt er sich eine Brille auf, mit der er messen kann, wohin welcher Gast im nun so individuell eingerichteten Raum blickt. Die Ergebnisse will er dann für sein Marketing nutzen. Und dann hat er noch einen Plan. Wenn seine Arbeit geschrieben und der Bachelor abgehakt ist, dann geht Tom Geißler auf eine große Reise. Durch Südamerika. Kaffeeplantagen besuchen.
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