Von Max Sprick
MAINZ - So ganz genau lässt sich der vielleicht bedeutendste Tag in der Vereinsgeschichte des FSV Mainz 05 nicht rekonstruieren. Es war ein kalter Tag, es war das erste Testspiel der 05er Anfang 1996 und es fand irgendwo in der Nähe von Saarbrücken statt. Konkretere Angaben zu den Rahmenbedingungen? Schwierig. Weil das, was dann auf dem harten Rasen irgendwo bei Saarbrücken passierte, alle anderen Erinnerungen überlagert.
"Es war das erste Spiel mit Viererkette ohne Libero", erinnert sich Christian Heidel. Insgeheim rechnete der Mainzer Manager damals mit "einer dicken Klatsche". Weil die 05er als abgeschlagener Tabellenletzter der zweiten Bundesliga zum 1. FC Saarbrücken, dem souveränen Tabellenführer der damals drittklassigen Regionalliga, reisten. "Zur Halbzeit stand es auch 6:0", sagt Heidel. "Allerdings für uns." Was er sah, kam Heidel vor "wie im Film". Dessen Hauptdarsteller hießen: Jürgen Klopp, Peter Neustädter, Michael Müller und Uwe Stöver. Sie bildeten die erste Viererkette in der Geschichte von Mainz 05. Vor allem dank dieser Innovation gewannen die Mainzer jenes Testspiel, das Klopp zehn Jahre später in der FAZ als "Offenbarung" bezeichnen sollte. Weil damit schlagartig ein völlig neuer Ansatz entstanden sei: "Wir wussten jetzt, dass wir Spiele gewinnen konnten, unabhängig von der Qualität des Gegners."
Dieser Ansatz war für den FSV im Winter 1996 allerdings auch bitte nötig. Ganze zwölf Punkte hatten die 05er damals auf ihrem Konto, schienen hilflos dem Abstieg entgegenzutaumeln. Bis der im September inthronisierte Wolfgang Frank in Saarbrücken auf Viererkette umstellte. "Ab dann ging's steil mit uns bergauf", erinnert sich Stöver, der die linke Seite beackerte. "Regisseur" Frank hielt hernach an seinen Hauptdarstellern fest. "Nach dem Sieg gegen Saarbrücken haben wir dann, glaube ich, 47 Spiele lang in der gleichen Aufstellung gespielt", sagt Klopp. Äußerst erfolgreich. Und nicht nur das: Unter dem ehrgeizigen Frank entwickelten sich in Mainz erstmals Ambitionen, mehr zu sein als nur die ewig abstiegsbedrohte graue Maus der zweiten Liga. Er gab den Startimpuls für die bis heute andauernde Mainzer Erfolgsgeschichte.
Doch der Tüftler Frank prägte nicht nur den Verein wie kein anderer vor ihm, sondern auch seine Spieler. Auffallend viele seiner Schützlinge wurden nach ihrer aktiven Zeit selbst Trainer und ihre Handschrift lässt dabei noch immer den frankschen Linienzug erkennen. Am erfolgreichsten gelang und (mit leichten Abstrichen) gelingt das Jürgen Klopp in Mainz und Dortmund. Hinzu kommen Männer wie Torsten Lieberknecht (Eintracht Braunschweig), Sandro Schwarz (seit dieser Woche Mainzer U23), Christian Hock (U19 Wehen Wiesbaden), Uwe Stöver (ehemals Trainer Mainz 05 II und Kaiserslautern II, jetzt Geschäftsführer Sport beim FSV Frankfurt) oder Herbert Ilsanker (Torwarttrainer RB Salzburg). Diese Liste ließe sich fast nach Belieben erweitern (siehe Infokasten).
An diesem Samstag wäre Frank 64 Jahre alt geworden. Doch im September 2013 erlag er einem Krebsleiden. Für seine Weggefährten ist und bleibt er aber unvergessen:
"Für Frank gab es nur Fußball", sagt Christian Hock. "Im positiven Sinne." Das habe der Trainer auch stets neben dem Platz gelebt. "Er hat uns Lebensgrundsätze gepredigt", sagt Sandro Schwarz. "Frank hat uns Zettel in die Hand gedrückt, auf denen Dinge standen wie ‚Wenn du daran glaubst, kannst du alles erreichen'". Für Herbert Ilsanker machte die Kombination von Fußball-Sachverstand und Führungsstil Frank zum "irrsinnigen Vorbild für jeden, der Fußball lebt und andere davon begeistern will."
So wie er seine Spieler für die Viererkette begeisterte. Gegen Saarbrücken mit der neuen Abwehrformation aufzulaufen, war kein spontaner Versuch. Kein Test. "Frank hat uns intensiv darauf vorbereitet", sagt Stöver. Nicht erklärend an einer Taktiktafel, sondern ganz praktisch mit trockenen Laufübungen, die die Spieler korrektes Verschieben lehrten. "Aufgrund unserer schlechten sportlichen Situation waren wir offen für alles", sagt Stöver. "Für die Viererketten-Idee waren wir sofort Feuer und Flamme", pflichtet ihm Hock bei. "Vorher hatten wir ja einfach nur drauf los gespielt, mit zwei Manndeckern und Libero."
Was folgte, ist nicht weniger als legendär: In der Rückrunde der Saison 1995/96 holten die 05er sensationelle 32 Punkte - das schwächste Team der Hinrunde explodierte zum stärksten der Rückrunde. "Das gab es bis zum heutigen Tag weder in der ersten noch in der zweiten Bundesliga noch einmal", sagt Manager Christian Heidel. Ein Jahr später stand die personell nahezu unveränderte Mannschaft plötzlich sogar kurz vor dem Aufstieg in die Bundesliga. Der Traum platzte erst am letzten Spieltag: In einem furiosen Spiel unterlagen die Mainzer am den direkten Konkurrenten aus Wolfsburg mit 4:5. Tausende verfolgten das dramatische Saisonfinale im Mainzer Volkspark vor einer Leinwand. Der ambitionierte Prinz Wolfgang hatte das jahrelang schlummernde Dornröschen Mainz 05 wachgeküsst, nein: wachgerüttelt.
Doch neben dem großen Ganzen sind es für die Spieler von einst vor allem die kleinen Anekdoten, die Frank so außergewöhnlich machen. "Einmal kam ich vom Training mit Nachwuchs-Torhütern in die leere Kabine", erinnert sich Herbert Ilsanker. "Plötzlich hörte ich Stimmen aus der Sauna weiter hinten." Ilsanker dachte, da finde ein Interview statt, wunderte sich über den ungewöhnlichen Ort dafür. Noch mehr wunderte er sich, als er die Sauna betrat. "Da saß Frank und interviewte sich selbst." Der Trainer tat das, um seine Ansprache zu perfektionieren, sowohl die vor der Mannschaft, als auch die vor den Medien. "Das hat er auch oft vor dem Spiegel getan", erinnert sich Hock. "Wenn wir morgens am Spieltag an seinem Hotelzimmer vorbei kamen, hörten wir ihn mit sich selbst reden." Auf die Spieler hatte dieses Training seine Wirkung. "Seine Stimmlage war nie monoton, hatte Höhen und Tiefen. Wenn Frank eine Ansprache hielt, warst du wach", sagt Ilsanker.
"Gerade als junger Spieler saugt man das extrem auf", sagt der Sandro Schwarz, der jüngst vom Mainzer U19- zum U23-Trainer aufgestiegen ist. Ihn holte Frank damals aus der A-Jugend zu den 05-Profis, als noch keiner wusste, dass sich beide Karrieren noch öfter kreuzen würden. Zwei Mal trainierte Frank Schwarz in Mainz, später nochmal beim SV Wehen Wiesbaden - wo Schwarz dann Frank als Trainer ablöste. "In unserem Übergabe-Gespräch hat er mir sofort das Du angeboten", sagt Schwarz. "Wir trafen uns bei einem Italiener und haben trotz der kuriosen Job-Situation darüber gelacht, was wir alles miteinander erlebt haben." Und über das, was der eine vom anderen gelernt hat. "Was wir heute im Nachwuchs bei Mainz 05 vorgeben, basiert auf dem, was ich unter Wolfgang Frank gelernt habe", sagt Schwarz. Die richtige Verhaltensweise in einem taktischen System, das Festhalten an eben diesem und das Umschalten von Defensive auf Offensive.
"Sein Ding durchgezogen"
Nur eine von Franks Maßnahmen scheint heute überholt: die Trainingslager-Gestaltung. An eine besondere Reise nach Zypern erinnert sich jeder der Spieler, die damals dabei waren. "Wir sollten für eine Woche ins Warme", erinnert sich Stöver. Weil es im Mainzer Winter aber bitterkalt war und die Trainingsplätze nicht zu gebrauchen, verlängerte Frank den Aufenthalt in der Sonne. "Da hat er nur kurz zu uns gesagt: ‚Ruft zu Hause an, wir bleiben hier drei Wochen'", sagt Stöver. "Da muss man Angst haben, dass sich die Ehefrau scheiden lässt, wenn man so lange weg bleibt." Immerhin wurde die Reisegruppe hochgestuft, durfte vom Vier-Sterne- ins Fünf-Sterne-Hotel umziehen. "Das hat ein bisschen entschädigt", sagt Stöver. Für die Länge des Aufenthalts, aber noch mehr für seine Gestaltung: "Es kam vor, dass er uns nach eineinhalb Stunden Training aufgefordert hat, unsere Laufschuhe anzuziehen", sagt Hock. Doch statt lockeres Auslaufen anzusagen, ließ Frank dann weitere eineinhalb Stunden Steigerungsläufe machen. "Wir waren dadurch topfit. Und das war ja seine Voraussetzung." Auch wenn die Spieler erstmal murrten, ließ Frank das nicht an sich herankommen. "Er hat eiskalt sein Ding durchgezogen - immer!", sagt Hock.
Nach der Zeit bei den 05ern sei Frank dann etwas lockerer geworden, erinnert sich Uwe Stöver. Er hielt den Kontakt zu seinem alten Trainer, der danach Unterhaching in die zweite Liga führte, die Offenbacher Kickers und den Wuppertaler SV trainierte und dann zum AS Eupen in die Niederlande ging. "Da haben sie ihn als besten Trainer der Vereinsgeschichte gefeiert", sagt Stöver.
In Mainz gilt er bis heute als derjenige, mit dem eine neue Zeitrechnung begann. Mit einer Stunde Null irgendwann Anfang des Jahres 1996: "Die Mannschaft bekam damals in Saarbrücken das Gefühl, dass Wolfgang Frank etwas entwickelt hat, was uns von allen anderen Mannschaften unterscheidet und erfolgreich macht", erinnert sich Christian Heidel. Und Jürgen Klopp, der das Werk Franks mit dem Bundesligaaufstieg vollendete, sagte mal über seinen Lehrmeister: "Es gibt niemandem im Mainzer Fußball, der nicht zu hundert Prozent davon überzeugt wäre, dass alles mit Wolfgang Frank angefangen hat." Es ist Franks Vermächtnis. Für Mainz. Für die Ewigkeit.
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