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Schamgefühl: Schäm dich!

Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 03/2023.

Die Scham kriegt dich, irgendwann. Sie kann dich anspringen, wenn du unter Menschen bist, inmitten von Freunden oder Kolleginnen. Sie kann dich überfallen, wenn du allein vor dem Bildschirm deines Smartphones sitzt. Sie schläft vielleicht weit hinten in deinem Gehirn, dort, wo ein Erlebnis vergraben ist, an das du nicht zurückdenken willst. Die Scham aber ist imstande, durch die Zeit zu reisen. Und wenn die Erinnerung kommt, ist sie plötzlich wieder da. Als Hitze im Gesicht, als schweißnasse Hände, als Wunsch, im Boden zu versinken.

Vor knapp zwei Jahren fuhr die Scham der Amerikanerin Lindsay Ellis in den Körper. Die heute 38-jährige Autorin hat auf ihrem YouTube-Kanal jahrelang Video-Essays über popkulturelle Themen veröffentlicht. Über die Verfilmung des Musicals Cats oder über J. K. Rowling, die Autorin von Harry Potter. Es sind lange, komplexe Videos. Ihr Kanal hat mehr als eine Million Abonnenten.

Am 26. März 2021 setzt Lindsay Ellis einen Tweet ab. Sie schreibt: "Ich habe Raya and the Last Dragon gesehen, und ich denke, wir müssen uns einen Namen für dieses Genre einfallen lassen, das im Grunde aus Avatar: The Last Airbender- Wiederholungen besteht. Also die Hälfte der Fantasy für junge Erwachsene, die im letzten Jahr veröffentlicht wurde."

Zwei Sätze, 45 Wörter, für die allermeisten Menschen dieser Welt vermutlich unverständlich, unbedeutend, eine Nichtigkeit. Für eine kleine Gruppe von Leuten aber eine unverzeihliche Grenzüberschreitung. Sie übersetzen den Satz so: Lindsay Ellis behauptet, dass alle asiatischen oder asiatisch inspirierten Fantasy-Filme gleich sind. Es folgt ein Shitstorm. Tausende Tweets mit der Aufforderung, Lindsay Ellis möge sich sofort entschuldigen.

Das versucht sie und schreibt, sie habe es nicht so gemeint. Doch damit macht sie alles nur schlimmer, erzeugt neue Aufmerksamkeit. Einige Leute beginnen nun, in Lindsay Ellis' Internet-Vergangenheit zu suchen. Sie finden ein zwölf Jahre altes Video, in dem sich Ellis in einem selbst gedichteten Rap-Song über Vergewaltigungen lustig zu machen scheint. Noch mehr Aufregung. Ärger, Abscheu. Noch mehr Kommentare im Internet: "Ich hasse Lindsay Ellis". "Ein abscheulicher Mensch". "Auf Nimmerwiedersehen, Schlampe".

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Lindsay Ellis weiß sich nicht anders zu helfen, als ein weiteres Video zu veröffentlichten. Man sieht, wie sie sich einen Tequila eingießt und von sich erzählt. Ihre Hände zittern, der Blick flüchtet vor der Kamera, sie senkt den Kopf. Es ist, als würde man die Scham selbst sprechen sehen. Lindsay Ellis sagt, auch sie sei vergewaltigt worden. Über das Erlebte zu singen und zu lachen habe ihr ein wenig Stärke zurückgeben sollen, ein Stück Deutungshoheit über die eigene Identität. Das Lied sei nie für die Öffentlichkeit gedacht gewesen, jemand habe es gegen ihren Willen ins Netz gestellt. Schließlich sagt sie noch, es sei all den Wütenden da draußen doch nie um echte Empörung gegangen, sondern nur um den Wunsch, sie zu bestrafen, zu demütigen. Sie zu beschämen.

Die Scham ist eines der schmerzhaftesten Gefühle, zu denen der Mensch fähig ist. Und eines der mächtigsten. Lange Zeit aber sah es so aus, als ob sie an Macht verliere. Heute kann man in Jogginghosen in die Oper gehen, Kartoffeln mit dem Messer zerschneiden, statt sie mit der Gabel zu zerteilen, und sich als Politiker vor laufenden Fernsehkameras zu seiner Homosexualität bekennen. Manager sprechen öffentlich über ihr Burn-out, Schauspielerinnen offenbaren Bauchröllchen und Augenfalten, Fußballprofis berichten von ihrer Alkoholsucht, und kaum jemand zeigt mit dem Finger auf sie.

Doch irgendwie hat die Scham es geschafft, zurückzukommen, sich verloren geglaubtes Gebiet zurückzuerobern. Statt in Opernhäusern und Esszimmern zeigt sie sich jetzt vor allem in digitalen Räumen, in den sozialen Medien, im Internet. Dort, wo die Leute heute zusammenströmen wie einst auf den Marktplätzen des Mittelalters, werden Menschen an den Pranger gestellt für falsche Aussagen und falsches Aussehen. Manchmal auch nur für einen schlechten Witz.

Wie hat die Scham dieses Comeback geschafft? Und wäre eine Welt ohne Scham vorstellbar? Darum wird es gehen in diesem Artikel, genauso wie um die Frage, wo der Ursprung der Scham liegt. Wieso gibt es dieses ebenso starke wie seltsame Gefühl überhaupt?

Oder, anders gefragt, warum schmerzte es Paul Gärtner so sehr, wenn er am Beginn eines jeden Schuljahrs einem neuen Lehrer seinen Nachnamen sagen sollte?

Mit rotem Kopf habe er dann dagestanden, vor der ganzen Klasse, und nicht sprechen können, sagt Gärtner, der heute 30 Jahre alt ist. "Ich hatte einen Kloß im Hals." So erinnert er sich, in einem Café in Berlin-Schöneberg sitzend, an seine von Scham erfüllte Schulzeit.

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