Die alleinstehende Tante mit Dutzenden Katzen, der exzentrische Onkel in bunten Outfits. In vielen Serien und Filmen sind der schwule Onkel und die lesbische Tante über Jahre vor allem als Witz vorgekommen. Als Karikatur. Als schrullige Charaktere, die irgendwie zur Familie gehören - aber doch außen vor stehen.
Dabei ist die Rolle queerer Onkel und Tanten durchaus komplex - und nicht unwichtig: Oft sind sie es, die den Nichten und Neffen Einblicke geben können in queeres Leben und queere Kultur. Ihnen zeigen können, dass es auch Leben außerhalb der heterosexuellen Norm gibt. Die ihnen vorleben, wie man zu sich selbst und seinen Gefühlen steht. Und nicht selten sind sie es, die in Fragen der eigenen Sexualität zur Seite stehen können, als Gesprächspartner*innen für die Themen, über die man nicht mit den Eltern sprechen möchte.
Drei queere Menschen erzählen von ihrem Verhältnis zu ihren Nichten und Neffen. Erzählen von engem oder flüchtigem Kontakt. Von Homophobie und den Fragen, die ihnen gestellt werden. Vor allem aber sprechen sie von dem Eindruck, den sie hinterlassen - allein, weil sie so sind, wie sie sind.
Christian Achleitner, 48: "Groß thematisiert habe ich mein Schwulsein nie""Mein Mann Michael und ich haben lange über eigene Kinder nachgedacht. Da Leihmutterschaft in Deutschland immer noch verboten ist und eine Adoption für uns nicht infrage kommt, haben wir uns damit abgefunden, kinderlos zu bleiben. Wir haben ein sehr enges Verhältnis zu beiden Kindern meiner Schwester, als Ersatzvater habe ich mich selbst aber nie gesehen.
Meine Schwester hat einen Sohn und eine Tochter bekommen, er ist heute 26, sie 22. Damals war sie noch mit einem Mann verheiratet. Nach der Trennung vor etwa 20 Jahren, kam meine Schwester mit ihrer ersten Freundin zusammen, fünf Jahre waren sie zusammen. Dann hat sich meine Schwester in die Schwester meines Mannes verliebt.
Ja, das klingt alles ein wenig verworren, aber wir sind wohl das, was man eine Regenbogenfamilie nennt.
"So hat mein lieber Neffe auch früh gelernt, was Homophobie ist."
Ich habe mich mit 25 geoutet. Es ist wohl für jeden queeren Menschen eine große Sache, ein bedeutender Schritt. Für mich auch. Die Familie hat es gut aufgenommen, meine Mutter hat sich nur gefragt, wieso sie das nicht schon vorher gemerkt hat.
In den ersten Lebensjahren meines Neffen und meiner Nichte war ich als der schwule Onkel also die queere Bezugsperson - und weil ich existiert habe, war es für beide auch etwas ganz Natürliches, als die Mutter selbst mit einer Frau zusammengekommen ist.
Groß thematisiert habe ich mein Schwulsein nie. Ich habe keine Gespräche initiiert, in denen ich ihnen erklärte, was das bedeutet. An eine Frage meiner Nichte kann ich mich aber noch erinnern: Sie fragte mich, da war sie noch klein, wieso ich keine Frau habe. Ich sagte ihr, dass ich Männer liebe. Mit der Antwort war sie zufrieden.
Heute ist der beste Freund meines Neffen schwul, er ist damit aufgewachsen, dass das nichts Außergewöhnliches ist. Einmal hat er in der Schule ein Referat gehalten über Familie. Er hat dann von uns erzählt, von zwei Männern, die sich lieben und zusammen sind. Daraufhin haben einige Klassenkameraden hinter vorgehaltener Hand angefangen, darüber zu tuscheln, und sich darüber lustig gemacht. Das hatte er vorher nie erlebt, das waren eigentlich gute Freunde. Und es waren Kinder, die oft bei ihm zu Hause waren und uns auch kannten. Nach dem Referat aber war er 'anders' - weil seine Familie 'anders' ist. Das hat ihn ziemlich mitgenommen.
So hat mein lieber Neffe auch früh gelernt, was Homophobie ist. Das alles sind Erfahrungen, die er wohl nicht gemacht hätte, wenn ich heterosexuell wäre. Ich denke, er ist dadurch ein erfahrenerer Mensch geworden. Und hoffentlich auch ein rücksichtsvollerer."
LeCiel Iphis Nejema, 36: "Es ist mir wichtig, ihnen Einblicke zu geben in queere Kultur""Wenn du 23 Nichten und Neffen hast, brauchst du keine eigenen Kinder. Ich habe sechs Geschwister, die alle Kinder bekommen haben, und da habe ich als Tante gut zu tun. Von drei bis 28 Jahre sind die alt und besonders mit denen im Teenageralter spreche ich viel über Queerness und mein Leben als lesbische Frau.
Selbst geoutet habe ich mich eigentlich nie. Meine Familie hat sich das schon immer gedacht, alles, was ich tun musste, war, das zu bestätigen. Ich bin in Saint Louis, in den USA, aufgewachsen, habe schon in vielen Städten gelebt und wohne jetzt in Berlin, versuche meine Nichten und Neffen aber oft zu besuchen. In den vergangenen Monaten war das wegen Corona natürlich schwierig, also haben wir viel Kontakt über Facebook und WhatsApp gehabt.
Da ich selbst noch ein Kind war, als meine Geschwister die ersten Kinder bekommen haben, sehe ich gerade die Älteren eher als Brüder und Schwestern. Ich habe auch auf sie aufgepasst, habe mitgeholfen, wenn es meinen Geschwistern mal zu viel wurde. Trotzdem sehen meine Nichten und Neffen mich als ihre Tante - nicht ihre Schwester. Da ist also auch ein Respekt mir gegenüber.
"Es ist ja auch ganz egal, ob sie nun queer ist oder nicht. Wichtig ist mir nur, dass ein 'Vielleicht' für sie nichts Schlimmes ist."
Ich bin Künstlerin, komponiere Musik, schreibe Lieder, also ist es mir wichtig, ihnen Einblicke zu geben in queere Kultur und Geschichte. Besonders aber schwarze queere Kultur und Geschichte. Da gibt es so viele Personen, von denen sie sonst nichts mitbekommen würden. Menschen und Themen, die in der Schule niemals vorkommen. Audre Lorde etwa, eine lesbische Schriftstellerin, die als Feministin aktiv war. Oder Ma Rainey, eine Bluessängerin, die 1886 geboren wurde und in ihren Lyrics auch über Lesbianismus und Bisexualität sang.
Das alles finden sie total interessant, denn sie wissen, dass das Menschen sind, die sie nur kennen, weil sie eine lesbische Tante haben. Ihre Eltern sind liberal und haben alle kein Problem damit. Aber sie selbst können nun mal keinen Einblick geben. Das kann nur ich.
Kürzlich habe ich mit einer Nichte von mir über Sexualität gesprochen. Ich habe sie gefragt, ob sie auch an Frauen interessiert ist. Ihre Antwort war: vielleicht. Ein paar Monate später sagte sie mir, dass sie inzwischen sicher ist, nur auf Männer zu stehen. Es ist ja auch ganz egal, ob sie nun queer ist oder nicht. Wichtig ist mir nur, dass ein 'Vielleicht' für sie nichts Schlimmes ist. Und dass sie weiß, dass sie damit immer zu mir kommen kann."
Lutz Wiechers, 55: "Ich wollte nicht wahrhaben, dass ich schwul bin""Erst vor 22 Jahren habe ich mich geoutet, da war ich 33. Ich wollte einfach nicht wahrhaben, dass ich schwul bin. In der Kleinstadt, in der ich lebe, wird das nicht als normal gesehen. Ich hatte Angst davor, Probleme zu bekommen. Aber damals habe ich mich in einen Mann verliebt und wusste, dass es jetzt rausmuss.
Die Beziehung hielt vier Jahre, danach habe ich den Mann kennengelernt, mit dem ich inzwischen seit 13 Jahren verheiratet bin. Wir wollten nie Kinder haben. Zu alt - und außerdem haben wir ein Aquarium voller Fische, Welse und so was. Die sind pflegeleicht, das reicht uns.
Ich habe zwei Neffen, die Kinder meines Bruders, der vor 13 Jahren verstorben ist. Die sind 30 und 32, beide mit einer Frau verheiratet, beide mit Kindern. Als innig würde ich unser Verhältnis eher nicht bezeichnen, ich wurde nach dem Tod meines Bruders nicht zum Ersatzvater. Beide wohnen im Umkreis von 20 Kilometern von meinem Wohnort, Diepholz. Man sieht sich auf Familienfeiern, zu Weihnachten, an Geburtstagen. Meine Familie hat akzeptiert, dass ich schwul bin.
"Wenn es etwas gibt, das meine Neffen von ihrem schwulen Onkel gelernt haben, dann hoffentlich Selbstbewusstsein."
Meine Neffen haben mich nie gefragt, wie es ist, schwul zu sein. Welche Erfahrungen ich gemacht habe, wie es mir damit geht. Darüber wurde und wird einfach nicht gesprochen. Ich war halt immer da, zusammen mit meinem Mann. Sie haben es also als normalste Sache von der Welt gesehen. Auch wenn die Familie meinen Mann gern scherzhaft als Tante Jürgen bezeichnet.
Doch ich habe auch eine erweiterte Familie: Der Sohn von sehr guten Freunden, ein Mann und eine Frau, ist mein Patenkind. Vor einigen Jahren, da dürfte er 16 gewesen sein, waren wir zusammen einkaufen. Seine Firmung stand an, und wir wollten ein passendes Outfit shoppen. Erst hat er rumgedruckst, dann offen gefragt, wie ich eigentlich gemerkt habe, dass ich schwul bin. Ich habe ihm erzählt, dass ich mich mit Anfang 30 in einen Mann verliebt habe und so ein Gefühl nie bei einer Frau hatte. Keine Ahnung, wieso er mich das gefragt hat, ich wollte auch nicht weiter nachbohren. Aber ich bin froh, dass es dieses Gespräch gegeben hat und er weiß, dass er mit mir darüber sprechen kann.
Wenn es etwas gibt, das meine Neffen von ihrem schwulen Onkel gelernt haben, dann hoffentlich Selbstbewusstsein. So zu leben, wie man leben möchte und zu dem zu stehen, was man macht und was einem wichtig ist. Ich denke, das habe ich ihnen so vorgelebt."