Zwei junge Frauen drehen ein TikTok-Video. Ein schlichter Raum, in dem sie sitzen, vielleicht ein Kinderzimmer. Sie blicken direkt in die Kamera, im Hintergrund läuft Jason Derulos R'n'B-Song Get Ugly. Er singt " This girl's straight" und die eine junge Frau zeigt auf ihre Freundin. " And this girl's not", sie zeigt auf sich selbst. Die Botschaft des kurzen Videos: Meine Freundin ist hetero, ich bin es nicht.
Schon ist das Video zu Ende. Die Wirkung aber ist groß. Ein Coming-out vor der Kamera, geteilt mit allen, die es sehen wollen. Dieser private Moment, für den jeder und jede Kraft, Raum und Form finden muss, wird immer mehr zu einer öffentlichen, inszenierten Angelegenheit. Videos und Memes auf Facebook, , YouTube oder TikTok lassen dieses Ritual für manche zu einem Happening werden. Tausende junge Menschen feiern sich zu Get Ugly und anderen Songs als lesbisch, schwul, bi, pansexuell oder trans, Millionen haben die Videos gesehen.
Ausgerechnet zu Get Ugly müsste man sagen. Denn der Song ist offensichtlich eher an ein heterosexuelles Publikum gerichtet. Der Künstler ärgert sich im Video in grellen Farben und ausladenden Gesten darüber, dass die hübschen Frauen in ihren knappen Outfits nicht alle auf Männer stehen. Und für ihn somit nicht als Partnerinnen in Frage kommen. Aber tatsächlich sind es häufig solche Songs und Memes, die Teil der Coming-out-Bewegung werden. Queere Userinnen und User spielen mit den Klischees, die Stücke wie Get Ugly reproduzieren. Die Memes sind eine Form von Protest.
Aber sie haben noch eine andere wichtige Rolle. Sie geben Sicherheit. Denn aller vermeintlichen Offenheit heutiger Gesellschaften zum Trotz: Für viele Menschen ist es noch immer ein schwieriger Schritt, sich zu outen. Eine Befragung der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) kam kürzlich zu dem Ergebnis, dass 43 Prozent der queeren Menschen in Deutschland ihre Identität nicht offen leben, EU-weit sind es sogar 56 Prozent. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes "sieht Handlungsbedarf".
Anders als früher bietet dort, wo im echten Leben der Rückhalt fehlt, heute das Internet große Möglichkeiten. Im virtuellen Raum finden viele die Community, die sie suchen. So war es auch bei Luna, aufgewachsen in einer kleinen Stadt in Bayern. In ihrem Pass steht ein anderer Name, aber sie wird seit Jahren Luna genannt. Mit Queerness hatte sie in ihrer Heimat nicht viel zu tun. "Erst als ich für zwei Jahre nach Manchester gezogen bin, hat sich das verändert", sagt die 26-jährige angehende Lehrerin. "Ich merkte, dass ich nicht nur auf Männer stehe - und mich eigentlich auch gar nicht als Frau fühle. Mir bedeuten diese Kategorien nichts", sagt Luna.
Ihr Aufenthalt in Manchester ist fünf Jahre her. Auf Facebook hatte sie damals immer wieder gesehen, wie sich Menschen in ihrem Newsfeed über bisexuelle Menschen lustig machten. Das ärgerte sie, weil sie das Gefühl hatte, dass Bisexualität nicht ernst genommen wird. Dann entdeckte sie ein Video aus der Musical-Serie Crazy Ex Girlfriend. Ein Lied, das mit den Worten "I don't know how, I don't know why, but I like ladys and I like guys" beginnt. In der Serie outet sich eine Figur mit diesem Video als bisexuell, mitten in einem Meeting im Büro. "Das Video hat mich total angesprochen. Also habe ich es selbst benutzt", sagt Luna. Sie postete es auf Facebook und schrieb darüber: " I am here for all genders."
Das war ihr öffentliches Coming-out und gleichzeitig auch ihr privates. Das Video habe ihr die Möglichkeit gegeben, das auszudrücken, was sie sagen wollte: Ich bin nicht hetero. Und nein, Bisexualität ist nicht nur eine Phase. Sie bekam viele Reaktionen aus der queeren Community, die sie bestärkten. Und diese öffentlichen Kommentare konnten wiederum ihre alten Freunde aus dem Dorf lesen. Luna hatte also von vornherein Rückhalt und fühlte sich unterstützt selbst für den Fall, dass Freunde pikiert reagiert hätten. "Auf diese Weise hätte selbst meine konservative Tante vom Dorf mitsingen können, während ich mich outete", sagt Luna. Sie hat zwar nie eine Rückmeldung dieser Tante bekommen, ist sich aber sicher, dass sie das Video gesehen hat. Schon allein der Gedanken an diese Szene, die Reaktion ihrer Tante, gefällt Luna.