
Ein Pflaster auf der Lippe nutzt nichts (Ausschnitt Cover: S. Fritz: „Steine schmeißen“, Kanon/Raisich/Fesel/bobsairport)
Die letzten zwei Jahre waren bestimmt von Unsicherheit und Ängsten, voller Ungewissheit und enttäuschter Hoffnungen. Wir würden den dauerhaften Krisenzustand gerne überwinden, die „Vielleichts“ unserer globalisiert-digitalisierten Lebenswelt verlassen. Urvertrauen ist ein Fremdwort geworden. Ein Romantipp zu Silvester, zum Eintauchen in die Grundgefühle der Generation Y und Z.
Böller, Alkohol und Bleigießen genügen nicht, um aus der
dauernden Unsicherheit auszubrechen. Unsere Sehnsüchte liegen tiefer als
im „Nächstes Jahr wird‘s besser“. Virtualität bestimmt für die jüngeren
Generationen schon lange vor Corona ihren Alltag. Wir wünschen uns
Urvertrauen, jemanden, der sagt: „Alles wird gut“. Aber diesen Wunsch
können wir nur ironisch äußern, so kitschig klingt er. Wie entkommen wir
dem Zynismus der Unverbindlichkeit?
Irgendwann gegen Ende 2020 dachte ich mal: Wenn Corona irgendwann
vorbei ist, wird sich ein radikalisiertes Bedürfnis nach Körperlichkeit
Bahn brechen, nach ungekannter Nähe zu Freunden und Fremden,
überbordende Freude über das Ende der Kontaktbeschränkungen,
ekstatisches Feiern, der Wunsch, die ganze Welt zu umarmen, den
unterdrückten Gefühlen der letzten Monate freien Lauf zu lassen. Doch
selbst in den Monaten niedrigerer Inzidenzen scheint eher das Gegenteil
einzutreten, jedenfalls bei mir und den meisten, die ich kenne. Ich bin
vorsichtig geworden, noch ängstlicher als vorher. Die Pandemie hat uns
in die maximale Unverbindlichkeit gedrängt.
Alles zeitgleich möglich
Meine und die nachfolgenden Generationen sind in einem paradoxen Klima aufgewachsen. Einerseits stehen uns alle Möglichkeiten offen, andererseits jagt eine gesellschaftspolitische Krise die nächste. Wie sollen wir in diesem Modus verbindliche Entscheidungen treffen, die uns langfristig zufrieden machen? Wenn mir alles offensteht, sollte ich mich doch besser nicht festlegen, sonst verpasse ich etwas. Und andersherum: Wenn sich jederzeit alles verändern, zusammenbrechen kann, warum dann Kraft investieren in langfristige Planungen und Lebensentwürfe? Dann sollte ich mir doch lieber alles offenhalten: Studienfach, Beruf, Beziehung, Wohnort. Diese Ambivalenz spiegelt sich in der digitalen Welt, in der immer alles sofort möglich und verfügbar ist, ohne Rhythmen, ohne Rituale, ohne Anfang oder Ende.
Alles wird
gleichzeitig abgebildet, steht im Internet scheinbar gleichwertig
nebeneinander, Rassismus-Debatte und halbnackte Modeinfluencerin,
Terroranschläge neben veganen Kuchenrezepten und Videos von süßen Hunden
– und überall: Corona. Wir sind von dieser Masse an Eindrücken, an
Bildern, Videos und Werbebotschaften überfordert. Was muss ich
ernstnehmen, was ist unterhaltsam und witzig gemeint? Wo muss ich mich
positionieren, was lasse ich besser vorbeiziehen? Es gibt keine Grenze
zwischen Ernst, Ironie, Satire, Sarkasmus und Zynismus. Es sind zu viele
Gefühle, ich kann sie nicht einordnen, muss mich innerlich abgrenzen,
wenn global immer alles gleichzeitig passiert und sich mir synchron auf
meinem kleinen Bildschirm zeigt, direkt vor meiner Nase. Das Digitale
ist nicht „bloß virtuell“, weit gefehlt. Warum sollte etwas nicht real
sein, nur weil es in meinem Kopf stattfindet? Es wirkt auf mich,
betrifft mich unmittelbar, meine Gefühle, mein Stresslevel, Botenstoffe,
Dopamin, Adrenalin, Serotonin. Die Emotionen und Ängste, aber auch die
Kommunikationsformen des Digitalen bilden sich auch im „analogen“ Leben
ab, wenn man die beiden Welten überhaupt noch sinnvoll unterscheiden
kann. Das Digitale beeinflusst, wie wir über uns selbst denken, fühlen,
miteinander umgehen, was wir voneinander erwarten, von Freunden,
Partner*innen, Kolleg*innen, von gesellschaftlichen Institutionen,
Politik und Medien.
Digital erzeugte Unverbindlichkeit
Um von der Gleichzeitigkeit und der Überfülle nicht erschlagen zu
werden, ziehen wir uns zurück in unsere Köpfe, in Gedanken- und
Angstspiralen, paradoxerweise wiederum in die Unverbindlichkeit, ins
Virtuelle – einerseits. Andererseits wünschen wir uns Nähe und
Verbundenheit, echte Begegnung, verbindliche Beziehungen, Geborgenheit
und Vertrauen. Doch solche Begriffe klingen kitschig, man kann sie
bestenfalls halb-ironisch aussprechen, uneigentlich, über- oder
untertrieben.
Wem sollte man denn in dieser Welt wirklich vertrauen, worauf sich verlassen? Unsere Angst vor Nähe spiegelt sich absurderweise in einer gleichzeitigen Sorge um Distanz. Harmonie ist uns mindestens genauso suspekt, wie wir jeden offenen Konflikt möglichst vermeiden wollen.
Im erzwungenen Rückzug der Pandemie haben sich viele dieser Tendenzen
noch verstärkt und verselbständigt. Werden wir sie irgendwann wieder
los, und wenn ja, wie? Im Dezember 2020 äußerten viele den Wunsch nach
dem Ende dieses „Scheißjahres“. Man wollte endlich mit der Krise
abschließen, in der Hoffnung, 2021 würde alles wieder besser werden.
Doch an Silvester durfte man nicht einmal die Ängste und Sorgen der
ersten Corona-Monate wegböllern. Und das neue, jetzt zurückliegende Jahr
wurde noch mehr als zuvor ein Leben in Virtualität, im Kopf, voller
Vielleichts und Ungewissheiten, distanziert und unverbindlich –
gezwungenermaßen. Einen „Freedom Day“ wird es nicht geben. Er ist eine
Illusion, nicht nur virologisch. Denn selbst wenn das Virus irgendwann
erfolgreich eingedämmt sein wird, müssen wir uns noch von den toxischen
Emotionen, Gedankenspiralen befreien, die uns schon lange vor Corona
innerlich belasten und uns von dem, wonach wir uns eigentlich sehnen
fernhalten. Böller und Alkohol an Silvester betäuben und übertönen nur
kurzfristig die Symptome. Vielleicht brauchen wir etwas Radikaleres. Wie
sollen wir zu einer neuen, befreiten Art von Verbundenheit und Nähe
finden? Kann Silvester dabei helfen?
Sehnsüchte einer Generation
In ihrem 2021 erschienen Romandebüt nimmt sich Sophia Fritz dieser
Fragen und Gefühle an. Die heute 24-jährige Autorin hatte sich bereits
2019 mit „Gott hat mir nie das Du angeboten“ (Herder) hervorgetan: als
sprachlich brillante und analytisch scharfe Prophetin für die Sehnsüchte
ihrer Generation nach Nähe, Beziehung, nach Vertrauen und Transzendenz,
in einer Welt voller Leistungsdruck – befreit von Rhythmen, Ritualen
und Pausen.
Bei der Lektüre von „Steine schmeißen“ (Kanon, 2021) taucht man ein in das Gedanken- und Gefühlschaos der Ich-Erzählerin Anna, einer Studentin Anfang 20 in Wien, an einem Silvesterabend, nicht näher datiert, Corona spielt keine Rolle. Die Party in der Wohnung ihrer Freunde bildet allerdings mindestens bis zur Hälfte des Buches eher so etwas wie eine Rahmenhandlung. Gesprächsfetzen, Getränke und Würstchen aus dem Glas dienen Anna vor allem als Assoziationen für ihre Erinnerungen und Fragen, für den emotionalen Ballast des vergangenen Jahres, ihren Weltschmerz über das Erwachsenwerden, ihre Zweifel, die alles beherrschende Unsicherheit. Es geht um das Verhältnis zu ihren Eltern und Freunden, die gescheiterte Beziehung zu ihrer Jugendliebe, um ihre Affäre, das Verhältnis von Nähe und Distanz. Was ist Liebe? Was brauche ich, um mich geliebt und sicher zu fühlen?
„Ich denke daran, dass man die Wasserqualität von Menschen messen können sollte, als wäre jeder ein eigenes Biotop, um ungefähr vom selben zu sprechen, wenn man von Liebe spricht.“
Sophia
Fritz‘ Sprache ist voller Geschmäcker, Gefühle, Anklänge, Andeutungen,
und Töne. Sie schreibt bildhaft, assoziativ, schweift oft ab. Die
Autorin zieht mich in einen über viele Kapitel anhaltenden
Bewusstseinsstrom. Beim Lesen hatte ich immer wieder Sorge, mich in
diesem sprunghaften Stil zu verlieren, in dem nicht gekennzeichneten
Ineinanderfließen von wörtlicher Rede, Annas eigenen Gedanken und der
Beschreibung des Außen. Ich hatte Angst, hinterher nicht richtig
wiedergeben zu können, was die Ich-Erzählerin und Autorin eigentlich
sagen wollen, worum es in der Geschichte eigentlich geht. Die Autorin
scheint zu ahnen, dass ihr Erzählstil verwirrend wirken kann, sie
balanciert andauernd auf der Grenze von Ernsthaftigkeit, Kitsch und
Selbstironie, wie etwa diese Passage zeigt:
„Wie schmeckt dein Wein, frage ich Marie. Der Rosé ist hinterlistig, sage ich, Marie schaut schon wieder zu Samir und Fede, wie ein trockener Weißwein, der sich als süßer Rosé verkleidet, wie ein Rachefeldzug, auf dem man sich die Lippen rot anmalt, weil man weiß, man wird heute die neue Freundin des Ex-Partners treffen, und man weiß, man wird sie auf beide Wangen küssen und ihr Outfit loben, und sie wird es erwidern und irritiert sein von der ganzen Freundlichkeit, der Gelassenheit und dem warmen Empfang, bis man sich entschuldigt und wieder ins Auto steigt und dem glücklichen Paar winkt und die Sitzheizung auf drei stellt und denkt, die Herzenswärme, die ist eigentlich Fieber. Mann, Anna, unterbricht mich Marie, kannst du nicht einfach sagen, der Rosé ist mir zu süß.“
Das Gefühl von Uneindeutigkeit, die
ich selbst beim Lesen und noch jetzt beim Schreiben spüre, ist
vielleicht sogar eines der wichtigsten Themen des Buches: Die Angst,
oberflächlich zu bleiben, das Wesentliche nicht richtig zu fassen zu
kriegen, keine Verbindung aufzubauen, das Leben und das Erwachsenwerden
nicht richtig zu kapieren, die falschen Schwerpunkte zu setzen, sich mit
den eigenen Sehnsüchten, Bedürfnissen, Lüsten sogar im engsten
Freundeskreis falsch zu fühlen. So gelingt es der Autorin, mich in
meinen eigenen Erfahrungen zu erwischen. Sie lässt mich in die Gefühle
ihrer Generation eintauchen, zeichnet ein beeindruckend scharfes Porträt
der Mittzwanziger. Ich fühle mich in meiner eigenen Unsicherheit
ertappt, meinen Zweifeln, dem Gefühl der Verlorenheit zwischen den
Generationen, im Durcheinander von digital und analog, Ideal und
Wirklichkeit:
„Ich habe Fridays for Future vermisst in meiner Schulzeit, ich hätte mir gewünscht, da eine Gruppe zu haben, die mich versteht. Ich dachte damals, meine Wut wäre eine Phase, aus der ich rauswachsen müsste. Warum seid ihr dann nicht jetzt dabei, fragt mich die Freundin, das ist doch auch eure Zukunft. Bin ich doch, jedenfalls folge ich FFF auf Instagram, ich schaffe awareness, oder etwas Ähnliches.“
Anna
würde gerne die Vielleichts und Virtualitäten des Lebens aufbrechen,
sie sucht nach Identität und Identifikation, will etwas Echtes spüren.
Sie sehnt sich nach tiefer, radikaler Verbindung. Darf sie solche
Gedanken und Gefühle überhaupt haben, auch als körperliche Bedürfnisse
und sexuelle Lüste? Ihren Freunden gegenüber lügt sie über ihre
Trennung, ihre Affäre, verschweigt ihre Zweifel:
„Oft hatte ich eine Nachricht begonnen, aber kein einziges Mal wusste ich, wie ich erklären sollte, was in den letzten Monaten passiert war, mit welcher Erzählung ich anfangen konnte, damit das Ende kein schlechtes Licht auf mich warf. „Jara, schrieb ich ihr vor drei Wochen, ich war einkaufen, und auf der Milchpackung steht, dass da viel Liebe drin ist, warum kann ich das nicht von mir“
In
einem Ritual sollen alle Gäste auf der Silvesterparty die schlechten
Dinge des vergangenen Jahres auf Steine schreiben, sie vorlesen und die
Steine danach in die Donau werfen – um das alte Jahr loszuwerden. Ein
junger Mann gesteht, dass er im Puff war, unter Annas Freunden als
frauenverachtend missbilligt. Anna schweigt, sie kann ihre tiefsten
Sehnsüchte nicht äußern – nach Geborgenheit:
„Im Grunde wünsche ich mir auch so etwas wie einen Puff, aber einen, in dem ausgebildete Sozialarbeiter mit großen Händen in sehr stillen Räumen sitzen und mir tröstend für eine Stunde über den Rücken streicheln, wo mich eine liebe Frau fesselt und sich dann an meine Seite faltet wie Yoko Ono, wo mein Hausarzt mich ab und zu akupunktiert und meine Professorin alle zwei bis drei Wochen vorbeikommt und sagt, das wird schon alles.“
Mit dem Steine-Ritual
als Katalysator verändert sich die Stimmung auf der Feier: Lügen und
Fehlverhalten anderer kommen ans Licht. Mit der Wahrheit tritt auch
Gewalt zutage. Annas Suche nach Liebe und Nähe bricht sich Bahn in
radikalisierter Körperlichkeit und schmerzhaften Berührungen, eine Lippe
blutet, ein Stein wird zu früh geworfen. Mit der Gewalt dreht sich die
Dynamik des Abends – für Anna, für ihre Freunde und für den Lesefluss,
der im zweiten Teil linearer, spannungsreicher wirkt. Annas Stream of Consciousness wird
jetzt immer öfter unterbrochen, sie taucht aus ihrem intensiven
Nachdenken auf, es kommt Bewegung in die Geschichte. Das radikal
Körperliche und die Gewalt scheinen paradoxerweise eine verbindende, ja
befreiende Wirkung zu haben:
„Und dann, sage ich, werde ich einfach nicht mehr über alles nachdenken heute Nacht und Urvertrauen in die Welt haben. Urvertrauen, wiederholt Lukas, ich dachte, das ist das Ding, das man als Baby von den Eltern bekommt, wenn sie immer wieder das aufheben, was man absichtlich auf den Boden schmeißt. Ich glaube, sage ich, das stellt sich einfach ein, wenn man aufhört mit dem ständigen Nachdenken.“
Endlich
aufhören, soviel nachzudenken, zu zweifeln – Urvertrauen
zurückgewinnen! Ich finde mich in Sophia Fritz‘ Romandebüt wieder. Erst
recht nach der Pandemie würde ich gerne meine Ängste überwinden, die
Unverbindlichkeit, die Distanz, den Abstand – etwas Echtes spüren und
erleben. Braucht es dafür einen radikalen Wandel? Vielleicht. Ich habe
Angst, dass die neue Nähe wehtut, dass es mir zu radikal wird. Die
innere Auseinandersetzung mit diesen Fragen am Ende der zwei
Corona-Jahre war für mich beim Lesen und Rezensieren sehr lohnend, hat
mich berührt und inspiriert, hat mich aber auch angestrengt. An den
Schreibstil von Sophia Fritz musste ich mich neu gewöhnen. Wie stark und
auf den Punkt ihre Sprache ist, habe ich festgestellt, als ich einige
Absätze laut vorgelesen habe und mit anderen darüber ins Gespräch
gekommen bin. Wer mit Blick auf das vergangene Jahr in die Gefühls- und
Gedankenwelt jüngerer Generationen eintauchen will, sollte dieses Buch
unbedingt lesen oder noch an Silvester verschenken, vielleicht als guter
Vorsatz für das neue Jahr.
„Ich will nicht an den ersten denken und den zweiten und sechsten Januar, ich will, dass so viel passiert, dass ich alle vorigen Silvester vergesse, vielleicht können wir ja irgendwo reinspringen, in ein Hallenbad einbrechen und uns um Mitternacht im Schwimmerbecken gegenseitig taufen, oder wir beschriften ein Schloss mit F & A und hängen es an eine Brücke, als Zeichen. Was soll das denn für ein Zeichen sein, fragt Fede. Einfach ein Zeichen, antworte ich.“
Sophia Fritz: Steine schmeißen. Kanon Verlag, Berlin, 2021 (ISBN: 978-98568-007-8)
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