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Arzt am Ende der Leitung

Heftige Schmerzen, eine Schwindelattacke oder hohes Fieber und das mitten im Nirgendwo, im Flugzeug oder auf See – eine Horrorvorstellung! Wenn weit und breit kein Arzt zu finden ist, hilft heutzutage die Telemedizin bei der Ersten Hilfe, der Diagnose, sogar bei der Behandlung. Als deren Pionier in Deutschland gilt Trong-Nghia Nguyen-Dobinsky, der schon vor mehr als 20 Jahren Technologien entwickelte, um die verschiedenen Standorte der Berliner Charité untereinander zu vernetzen. 2001 gründete der promovierte Medizininformatiker die Global Health Care (GHC) GmbH aus dem Berliner Universitätsklinikum heraus. GHC mit aktuell sieben Festangestellten entwickelt Hard- und Software-Systeme namens AescuLink, die Ton, Video, Text und medizinische Daten übertragen, visualisieren und dokumentieren.

Getestet wurden sie zunächst in Pilotprojekten mit der Lufthansa und der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) mit der Charité und dem Unfallkrankenhaus Berlin: Die Telenotärzte – und ärztinnen analysieren in Echtzeit die Daten, stellen Diagnosen und geben den Ersthelfern Handlungsanweisungen. Nach Firmenangaben sind AescuLink-Systeme außer bei der DGzRS bei dänischen Reedereien und der dänischen Schifffahrtsbehörde, auf einer Polarstation, bei den Betreibern von Offshore-Windparks sowie Rettungsdiensten und Pflegeheimen im Einsatz. Am anderen Ende der Leitung gibt es zurzeit sechs kooperierende Krankenhäuser in Deutschland und Skandinavien.

Die Situation auf See ist Nguyen-Dobinsky nicht nur als Medizininformatiker, sondern auch als Schiffsbauingenieur vertraut. Die Seefahrt habe ihn schon immer angezogen, aber die Mutter wollte ihn nicht aufs Meer lassen: Schiffe zu bauen war halt der Kompromiss. Der 1953 Geborene studierte an der TU Berlin und sammelte praktische Erfahrungen in einer Bremer Werft. Doch die die Schiffsbaukrise in den frühen 80ern machte dem Traum ein Ende. „Es war absehbar, dass die Branche sich nicht so schnell erholen werde“, sagt der Ingenieur. Also spezialisierte er sich mehr auf die Arbeit mit CAD/CAM-Anwendungen.

„In meiner Familie war der eine Großvater Ingenieur, der andere Arzt. Ich wollte diese beiden Richtungen verschmelzen“, lächelt Nguyen-Dobinsky. Das gelang ihm, als er sich auf eine Informatiker-Stelle bei der Charité bewarb. Er arbeitete dort an mehreren Forschungsprojekten mit und promovierte in Medizininformatik. Die telemedizinischen Lösungen entwickelte er zusammen mit Kollegen zunächst für den Eigenbedarf der Klinik. Er hat auch das eLearning im sog. Mobilen Campus mitaufgebaut. „Wir haben an der Charité oft viele seltene und schwierige Fälle, die ein Arzt normalerweise in seinem ganzen Berufsleben nicht sieht. Beim Mobilen Campus bekommen die Studierenden eine Nachricht von ihrem Professor, dass um soundsoviel Uhr eine seltene Erkrankung behandelt wird und können die Visite aus der Ferne mitverfolgen“.

In den Pionierzeiten der Telemedizin galt noch das sog. Fernbehandlungsverbot. Mittlerweile hat Corona der Digitalisierung auch in diesem Bereich einen ordentlichen Schub verpasst. Im Frühjahr 2020 nutzten laut „Digital Health 2020“ nur 8 Prozent der Bevölkerung Online-Sprechstunden, im Juli waren es bereits 13 Prozent. „Telemedizin ist aber mehr als die Televisite, bei der der Arzt den Patienten sehen und hören kann“, so Nguyen-Dobinsky. Kamera und Mikro reichten zwar für leichte Fälle, aber um beispielsweise Herzprobleme richtig einzuordnen, brauche es mehr Apparatur: EKG, Stethoskop, ein Blutdruck- und ein Sauerstoffsättigungsmessgerät oder auch ein Ultraschallgerät.

Und dann brauche es auch Personen, die die Technik bedienen können. „Ein Flugbegleiter hat keine Ahnung von Medizin. Der Arzt leitet ihn per Audio und Video an, wenn z.B. ein Passagier in Ohnmacht fällt, wie er die Vitaldaten aufnehmen soll. Nach der Übertragung entscheidet der Arzt, was er anordnet. Er sagt auch dem Helfer, ob er dabei richtig handelt: Dass er z.B. einen stärkeren Druck auf den Brustkorb ausüben und keine Angst haben soll, eine Rippe zu brechen“.

Welche technische Ausstattung vor Ort sei, hänge davon ab, welche Probleme man erwarte. Ein Rettungsschiff führe beispielsweise auch ein Beatmungsgerät und einen Defibrillator mit sich. Dort gebe es auch ausgebildete Helfer an Bord. Die maritimen Retter helfen nicht nur erkrankten Seeleuten, verunglückten Seglern und weggetriebenen Anglern, sondern auch den Mitarbeitern von Offshore-Anlagen, wo es hin und wieder zu Arbeitsunfällen oder akuten Krankheitsanfällen kommt. Die Telemedizin entscheidet mit, ob ein Patient an Ort und Stelle versorgt werden kann oder per Hubschrauber ausgeflogen wird. Manchmal gilt es auch die Zeit zu überbrücken, bis der Notarzt kommt. Das kann auf hoher See bis zu zwei Stunden dauern – oder bei schlechtem Wetter überhaupt nicht möglich sein.

Die virtuellen Mediziner betreuen aber auch Pflegeheime, die zunehmend mehr zu den Kunden der GHC zählen. Einige Einrichtungen des Roten Kreuzes in Schleswig-Holstein wurden in einem vom Land geförderten Projekt mit den Ärzten der Region und mit einem Krankenhaus vernetzt: Die Mediziner können so auf Distanz den Blutdruck und die Lungenfunktion messen, ein EKG machen oder in das entzündete Auge schauen. Den Senioren werden die Fahrten und die Wartezeiten in den Praxen erspart.

War das früher vor allem eine Notlösung für Gegenden mit schlechter medizinischer Versorgung, ist es in Corona-Zeiten lebensnotwendig, Kontakte nach außen zu beschränken. „Die Telemedizin ist angekommen“, meint Nguyen-Dobinsky: Die Anfragen häuften sich und auch ihre Qualität sei anders. „Den Hausarzt ersetzen wollen wir nicht“, betont er: „Aber es gibt Gegenden, wo es keinen Hausarzt gibt“. Dort könne geschultes und technisch ausgestattetes Fachpersonal, z.B. Gemeindeschwestern, die Kranken besuchen.

Natürlich braucht es für die Datenübertragung auch eine schnelle und stabile Internetverbindung: Bis „jede Milchkanne“ an Glasfaser oder 5G angeschlossen wird, werden noch einige Jahre vergehen. Das Problem fehlender Netzabdeckung löse GHC per Satellitenverbindung am Auto des Fachpersonals und WLAN zum Patienten, erzählt Nguyen-Dobinsky. „Oder wir nutzen mehrere SIM-Karten, je nachdem welcher Mobilfunkanbieter das bessere Netz vor Ort hat.“

In Deutschland gebe es noch keine Möglichkeit, Telemedizin komplett von den Gesetzlichen Krankenkassen bezahlen zu lassen, moniert der GHC-Geschäftsführer: „Die Televisite ja, aber beispielsweise kein EKG“. Das Abrechnungsproblem bestünde vor allem für die niedergelassenen Ärzte, während die Krankenhäuser die Fernbehandlung intern verrechnen könnten. „Corona hat allerdings die Bereitschaft erhöht.“ Dabei eröffne diese Technologie mehrere Möglichkeiten, den Arzteinsatz zu optimieren. Erstens gebe es weniger Hausbesuche oder unnötige Rettungsfahrten und -flüge. Zweitens können gleich Ärzte verschiedener Fachrichtungen eingebunden, eine weitere Meinung unkompliziert eingeholt werden. „Jetzt schreibt A eine Überweisung zu B, man holt sich die zweite Meinung bei C: Das alles kann nun in einem Schritt erfolgen“.

Seit drei Jahren arbeitet der 67jährige nicht mehr an der Charité, um sich voll GHC und seiner Lobbyarbeit für die Anerkennung der Telemedizin widmen zu können. Mittelfristig wird in der Telemedizin auch die KI eine größere Rolle spielen, meint er. Beispiel: Schwangere mit bestimmten Komplikationen müssen oft wochenlang im Krankenhaus liegen. „Wir können die Frauen stattdessen mit Hilfe von Sensoren zuhause überwachen und erst wenn die Software sagt, ihr Zustand wird kritisch, sie ins Krankenhaus transportieren lassen“.