1 Abo und 0 Abonnenten
Artikel

Industrie 4.0: Mit Leitwerken die Zukunft üben | DW | 22.12.2020

Bevor große Unternehmen ihre gesamte Produktion digitalisieren, testen sie oft erst an einem Standort was funktioniert. Beim Produzenten von Verbindungstechnik, der Weidmüller-Gruppe wurde das Werk in Wutha-Farnroda ein solcher Standort. Hier bedient Kevin Walther einige Maschinen.

Was war das früher eine Lauferei! "Für jede Buchung musste ich zum PC hin und wieder zurück", erinnert sich Walther. Er lief so manchen Kilometer zwischen Maschine, PC und Drucker. Heute erspart ihm ein mobiles Gerät Wege und gedrucktes Papier. "Wir fertigen seit 30 Jahren Leiterplatten-Steckverbindungen", sagt Werksleiterin Maria Groß: All das, was Maschinen- und Anlagebauer benötigen, um Kabel anzuschließen und an Stromquellen anzubinden.

Heute holt sich Walther zum Schichtbeginn ein iPod von der Ladestation und wählt sich in das firmeneigene MES (Manufacturing Execution System) ein. An seinen Maschinen in der Montage der TWG, der Thüringischen Weidmüller GmbH in Wutha-Farnroda, steckt jeweils ein iPad. Er meldet sich per QR-Code an und hat so alle Informationen parat, die er zum Arbeiten benötigt.

Walther fertigt Steckverbinder in verschiedenen Längen, von 2- bis 24-polig. Für jedes Produkt ist eine Standard-Rezeptur mit der optimalen Maschineneinstellung im MES hinterlegt. Ein Klick und ihm wird angezeigt, wann die nächste Qualitätsprüfung ansteht. Ein weiterer Klick und er bekommt die Information, dass der Auftrag innerhalb der Soll-Zeit ist und die Betriebstemperatur stimmt. Mit dem tragbaren iPod scannt der Monteur Barcodes an den Materialwannen, um Verwechslungen auszuschließen und quittiert den fertigen Auftrag.

Digitalisierung - erst im kleinen Rahmen testen

Der Digitalisierung in der Weidmüller-Gruppe ist ein monatelanger Entwicklungsprozess vorausgegangen. Als Digitalisierungsleitwerk wurde die TWG mit 315 Beschäftigten ausgesucht. Was hier gut gelingt, wird in den folgenden Jahren von anderen Unternehmensteilen übernommen - von der Zentrale in Detmold und den 12 weiteren Produktionsstandorten in China, Rumänien und anderen Ländern.

Zum Leitwerk wurde die TWG auserkoren, weil der Standort klein, aber autark ist. Damit ist er als Spielwiese gut geeignet. Die ganze Wertschöpfung findet vor Ort statt. Vom Spritzguss für die Klemmen-Kunststoffteile über die Stanzerei für die Metall-Kontakte bis zur hochautomatisierten Montage. Alle drei Produktionsbereiche wurden seit 2018 nach und nach ans MES angeschlossen und untereinander vernetzt.

Erfahrung der Beschäftigten abgeschöpft

Den Weg dazu hat Christoph Titz bereitet. Er arbeitet in der Instandhaltung und ist Mitglied des firmeneigenen MES-Teams. Monatelang haben die Mitarbeiter des MES-Teams den Beschäftigten bei der Arbeit über die Schulter geschaut und sie befragt, warum sie die Arbeit auf eine bestimmte Weise machen und nicht anders. Es geht etwa um die Logik, nach der ein erfahrener Feinplaner entscheidet, einen bestimmten Auftrag an dieser einen Maschine auszuführen und nicht an der (fast) identischen daneben.

Ausgewählte Vertreter und Vertreterinnen aus den verschiedenen Produktionsbereichen erläuterten dem Team, welche Funktionen ihnen wichtig waren: "Diese haben wir im Menü nach vorne gelegt. Dabei haben die Leute vieles in Frage gestellt, auch ihr eigenes Handeln", sagt Titz.

In der Halle gibt es weiterhin eine Feedback-Box für Verbesserungsvorschläge. "Ältere Mitarbeiter haben beispielsweise die zu kleine Schrift moniert", erläutert Titz. Deshalb sei ein Schieber am Bildschirm hinzugefügt worden. Die Kamera-Funktion dagegen sei abgeschaltet worden, weil es die Sorge gab, permanent bei der Arbeit gefilmt zu werden, so Titz.

Zum Start des globalen Rollouts 2021 werden Multiplikatoren der anderen Standorte zur TWG pilgern. Dort können sie dann Titz und andere Digitalisierungspioniere treffen, die die Veränderungen aus der Sicht der Belegschaft darstellen.

Siemens: Der Betriebsrat machte Dampf

Anders verlief die Geschichte des Werks von Siemens in Tübingen mit rund 400 Beschäftigten. Dieses Werk wurde als Notlösung digitales Leitwerk. Die traditionsreiche, Ende des 19. Jahrhunderts gegründete Fabrik entwickelt und fertigt Getriebemotoren für Förderbänder, Antriebstechnik und Wellenanlagen. Doch 2017 stand das Werk fast vor dem Aus: Die Produktion galt als nicht mehr wettbewerbsfähig, die Geschäftsführung wollte große Teile nach Osteuropa auslagern. Der Betriebsrat stellte sich quer und präsentierte eine Gegenstrategie: automatisieren und digitalisieren.

"Die Arbeitgeberseite war erst einmal skeptisch", erinnert sich der Tübinger Betriebsratsvorsitzende Ismayil Arslan. Aber ein Brainstorming der Angestellten ergab jede Menge Ideen. Die Initiative "Arbeit und Innovation" der IG Metall und externe Experten halfen bei der Umsetzung.

Kollege Roboter und Algorithmus

Inzwischen sei die Zusammenarbeit mit der Geschäftsführung sehr gut, lobt Arslan. Für die Verwandlung des Standorts in ein digitales Vorzeigewerk werden bis 2022 über 10 Mio. Euro investiert. Trotz Corona-Krise sei die Auftragslage gut: Man mache sogar Überstunden, heißt es vom Betriebsrat. Beim Einfahren neuer Bauteile habe sich die Gesamtbearbeitungszeit halbiert, unter anderem weil Brüche in der Prozesskette von der Entwicklung bis zur Qualitätssicherung mit Hilfe der Digitalisierung beseitigt werden konnten.

Durch ständige Auswertung von Maschinendaten wird die Produktion weiter optimiert. Heute leiten die Servicetechniker per Datenbrille ihre Kollegen und Kolleginnen auf der ganzen Welt bei der Wartung und Reparatur von Getriebemotoren an. Immer wiederkehrende Arbeiten werden in der Fertigung von Robotern erledigt und in den Büros von Algorithmen. Fahrerlose Transportsysteme sind zwischen Lager, Montage und Qualitätskontrolle unterwegs.

Zukunftsfonds zahlt die Weiterbildung

Ganz ohne Stellenabbau gehen solche Veränderungen aber meist nicht. Immerhin gut drei Viertel der Arbeitsplätze konnten bei Siemens gerettet werden, die Tätigkeiten haben sich jedoch gewandelt. Manche sind anspruchsvoller und nach Ansicht des Betriebsrats interessanter geworden. Etwa die Bedienung von Maschinen. Früher wurden hier laufend Teile in die Maschine ein- und ausgespannt. Das macht jetzt ein Roboter. Der Mensch richte die Maschine für den konkreten Auftrag ein, programmiere und positioniere den Roboter.

Über 80 Prozent der Belegschaft werden sich bis 2022 mit Mitteln aus dem Siemens-Zukunftsfonds qualifizieren. Der Fonds wurde in den Verhandlungen zwischen dem Gesamtbetriebsrat und der Geschäftsführung beschlossen, um die Betriebsschließung abzuwenden. Er stellt über 100 Mio. Euro für die Weiterbildung aller Siemensianer bereit.

"Die Bereitschaft der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sich zu verändern, ist natürlich größer, wenn - wie in Tübingen - der Standort vor dem Aus steht", sagt Tobias Bäumler vom Gesamtbetriebsrat. Trotzdem habe man jedoch nicht auf die pure Existenzangst gesetzt, sondern die Kollegen und Kolleginnen in allen Etappen eingebunden.

Heute geben sich Politiker, Wissenschaftler, Arbeitgeber und Gewerkschafter im Vorzeigewerk die Klinke in die Hand. Das Werk wurde vom Land Baden-Württemberg als innovativer Ort der Industrie 4.0. ausgezeichnet. Die Siemens-Betriebsräte wurden beim Deutschen Betriebsrätetag mit Gold bewertet. Die Weiterbildungsprogramme sind zudem für den Gesamtbetriebsrat eine Blaupause für die Zukunftssicherung im Konzern.

Zum Original