Eine saisonal relevante Frage: Was gehört zu einer guten Grillparty? Würde man Dom Toretto fragen, er antwortete wohl: Bier der Marke Corona, das Tischgebet, in dem man dem lieben Gott für seine schnellen Autos dankt, und eine Politik der offenen Gartenpforte. In fast jedem Film der Fast-&-Furious-Reihe schmeißt Vin Diesels Figur eine Grillparty, denn sie steht für den wichtigsten seiner Werte: die Familie. Mindestens so häufig wie das Wort "Auto" taucht "Familie" in der Reihe auf. Dom meint damit zunächst eine Wahlfamilie, seine Freunde, inzwischen sind viele leibliche Verwandte dazugekommen. Sein Sohn Brian bekommt gleich zu Beginn von Teil zehn Früherziehung am Steuer und geht dann mit seinem Onkel Jakob (Wrestlingstar John Cena) zusammen auf einen Roadtrip. Sogar Doms abuela, seine Oma, tritt diesmal auf, verkörpert von Rita Moreno.
Sie ist nur eine von vier Oscar-Preisträgerinnen im Cast, Helen Mirren ist schon seit Teil acht dabei. Fast & Furious ist zu einem Popkultur-Ereignis geworden, für das die altehrwürdige Hollywoodgarde ebenso bereitwillig Gesicht zeigt wie junge Stars, etwa Cardi B und Pete Davidson. Das hätte wohl niemand gedacht, als 2001 The Fast and The Furious erschien, ein B-Film über einen Undercovercop in der Welt illegaler Straßenrennen, der ans Teenie-Exploitation-Kino der Fünfzigerjahre erinnert. Damals waren in den US-Autokinos ständig rebellische Jugendliche mit durchdrehenden Reifen zu sehen, als Projektionsfläche für die Jugendlichen mit stehenden Reifen im Publikum. Der James-Dean-Klassiker ... denn sie wissen nicht, was sie tun ist ein Produkt dieser Ära.
Illegale Straßenrennen finden in den Fast-&-Furious-Filmen immer noch statt, sie sind aber sekundär zu Missionen für die Weltsicherheit. In Agentenfilm-Manier reist man ohne Not um den Planeten, die Einblendungen der Schauplätze werden in Teil zehn zum running gag: Rio, Rom, Neapel, London, schließlich die Antarktis. Fast & Furious ist zwar Blockbuster-Bombast, nimmt sich aber selbst nie zu ernst. Die bei den Kollegen vom Marvel Cinematic Universe so hoch gehängte Kontinuität - alles ist immer mit allem verbunden - hat man längst über Bord geworden. Im letzten Film war John Cena noch der diabolische Bösewicht, nun ist er für die Comedy zuständig. Viele der heutigen Verbündeten sind ehemalige Gegenspieler, kein Wunder, schließlich hat man inzwischen knapp 27 Stars im Cast unterzubringen, braucht aber pro Film nur einen Endgegner. In Teil zehn wundert sich der Supercop Aimes (Alan Ritchison) über den ständigen Zuwachs in Torettos Familie: "Sie sind wie eine Sekte mit Autos", sagt er.
Dom mit seinem heimeligen Grillparty-Ideal findet in Fast & Furious 10 einen ideologischen Gegenspieler: Dante Reyes (Jason Momoa) will aus Rache für ein Aufeinandertreffen in der Vergangenheit nicht nur Doms Familie, sondern auch dessen Prinzipien auseinandernehmen. Der sehr virile Aquaman-Darsteller Momoa darf hier gegen seinen Typus spielen: Dante Reyes ist eine queer codierte Figur mit Schlangenlederschuhen, ein Typ von tänzelnder Körperlichkeit. Leider kommt diese Abweichung von typisch männlichen Moden und Posen ausgerechnet bei einer Figur zum Einsatz, die im Film als psychisch krank beschrieben wird: Reyes soll mehrere Klinikaufenthalte hinter sich haben. Er wird als psychopathischer Antagonist gezeichnet, der sich seine Lakaien unterwirft, indem er deren Familien entführt. Wenn er seine Feinde in einem gekachelten Raum voller Fernsehbildschirme verbal traktiert, erinnert er gar an Jigsaw, den Strippenzieher aus der Saw-Reihe. Als Abbild von Queerness ist die Figur also höchst streitbar, als Abbild psychischer Erkrankungen ebenso, die Kombination aus beidem erscheint erst recht fragwürdig.
Der Plot passt indes auf einen Bierdeckel, viele Szenen wollen lediglich auf personelle Aha-Effekte hinaus: Aha, Jason Statham ist auch wieder dabei. Oho, Charlize Theron ist jetzt keine Feindin mehr, sondern eine Verbündete. Solches Figurengeschacher ist typisch für den Franchisegedanken im modernen Blockbuster-Kino: Jeder kann ständig die Seiten wechseln, niemand bleibt wirklich tot, alles ist ein bisschen egal. Widersprechen würde da wohl Vin Diesel, der nicht nur Hauptdarsteller ist, sondern auch Produzent mit viel Mitspracherecht. Er will, dass die Reihe ein würdiges Ende findet, anstatt ewig fortgesetzt zu werden. Von diesem Ende ist aber Fast & Furious 10 nur der Anfang: Das Studio Universal Pictures will das Finale strecken, ob auf zwei oder drei Filme, darüber wird noch verhandelt. Fast & Furious 10 endet jedenfalls mit einem unbefriedigenden Cliffhanger.
Am Ende misst man einen Film der Reihe aber eh an der Action. Neben der Kontinuität hat die Reihe auch Logik und die Grenzen der Physik längst über Bord geworfen, zugunsten von Szenen, die man sich im Autorenteam unter großem Gelächter ausgedacht haben muss. "Autos fliegen nicht, Dom!", ruft Paul Walkers Figur Brian noch in Fast & Furious 7. Dabei hat er selbst an diesem Punkt bereits mit einem Fallschirm am Auto rückwärts aus einem Flugzeug ausgeparkt. Als Antwort fährt Dom im 100. Stock eines Wolkenkratzers durchs Fenster, nur um in einem gegenüberliegenden Hochhaus ein paar Stockwerke tiefer wieder zu landen. Zuletzt, in Teil neun, surfte ein Auto zunächst auf dem Rücken eines Flugzeugs und flog dann dank Raketenantrieb bis in den Weltraum.
Auch in Teil zehn können Autos Dinge, die sie nicht können sollten. Sie bremsen etwa eine hausgroße Bombe, die durch die Straßen Roms in Richtung Vatikan rollt, betätigen einen Kran oder fahren senkrecht die Wand eines Staudamms hinab. Dieser prächtige Nonsense ist oft mit einer wahrhaft entfesselten Luftkamera inszeniert. Der Kamerachef Stephen F. Windon scheint im vergangenen Jahr den tollen Actionfilm Ambulance gesehen zu haben, in dem Michael Bay Drohnen für sich entdeckte, die er dann auch pausenlos durch die Straßenschluchten von Los Angeles stürzen ließ.
Ganz große Auto-Actionsequenzen gibt es im zehnten Teil von Fast & Furious nur zwei: besagte Jagd nach der rollenden Bombe in Rom, die auch das Highlight des Films ist, und das Finale. Dazwischen gibt es Geballer und Faustkämpfe ganz ohne Autos, und das ist schade, dafür sind doch bitte andere Filme zuständig. Immerhin springt Dom auch in Fast & Furious 10 wieder mit einem Auto aus einem Flugzeug. Auch wenn der Film streckenweise mit, nun ja, angezogener Handbremse fährt: Dem großen Traum, dass Autos fliegen und überhaupt alles können, was ein Drehbuchteam sich ausdenken kann, bleibt die Reihe treu. Und das ist das Wichtigste.
Zum Original