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Russland im Wartezustand: Gibt es noch eine Opposition?

Alexei Nawalny auf dem Marsch zum Gedenken an Boris Nemzow, 29.02.2020

Der in Deutschland bekannteste Oppositionelle ist Alexei Nawalny. Er verfügt ohne Zweifel über ein Charisma wie kaum ein anderer russischer Oppositionspolitiker. Es ist Nawalny gelungen, sich der Öffentlichkeit als ein Politiker zu präsentieren, der nationale Interessen betont und sich gleichzeitig für eine demokratische Entwicklung Russlands, freie Wahlen und die wirtschaftliche Unterstützung ärmerer Bevölkerungsschichten einsetzt. Und während Nawalny die Besetzung der Krim 2014 anfangs noch gerechtfertigt hatte, verurteilte er den Angriff auf die Ukraine 2022 sehr deutlich.

Diese Kombination aus nationalen, sozialen und demokratischen Forderungen hat Nawalny besonders unter jüngeren Russen populär gemacht. Doch in der näheren Zukunft kann niemand auf ihn hoffen: Nawalny sitzt seit Januar 2021 aufgrund einer fragwürdigen Anklage im Gefängnis und aktuell droht ihm eine weitere Verurteilung.

Jabloko: Aushängeschild der Liberalen

Außerhalb Russlands wurden lange die Liberalen als Hoffnungsträger der Opposition gegen Putin betrachtet. Die Partei Jabloko (deutsch: Apfel) ist das Aushängeschild der russischen Liberalen. Sie steht für einen marktwirtschaftlichen und prowestlichen Kurs. Doch im Westen hat man gerne übersehen, dass Jabloko außerhalb von Moskau und St. Petersburg kaum Unterstützung besitzt.

Die Partei verlor zunehmend an Stimmen und erreichte bei der Parlamentswahl 2016 nur noch zwei Prozent und 2021 sogar nur 1,3 Prozent der Wählerstimmen. In der Duma, dem russischen Parlament, ist Jabloko seit längerem nicht mehr vertreten. Auch wenn die staatsnahen russischen Medien Jabloko bewusst ausgrenzen, so scheint doch das Potenzial für die Partei in den russischen Weiten recht begrenzt zu sein.

Der Angriff auf die Ukraine hat allerdings den russischen Liberalen wieder Leben eingehaucht. In vielen russischen Städten demonstrierten Mitglieder Jablokos gegen den Krieg und es gab zahlreiche Festnahmen. Der frühere Parteivorsitzende Grigori Jawlinski, so etwas wie der Übervater Jablokos, erklärte schon kurz vor Beginn des Krieges, dass ein Angriff „einer ungeheuerlichen Verletzung sämtlicher Normen internationalen Rechts" gleichkäme. Ähnlich deutlich war auch die Kritik des jetzigen Parteivorsitzenden Nikolai Rybakow. In einem auf der Homepage Jablokos veröffentlichten Interview beklagt er „die Zerstörung der kulturellen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen Bindungen zu vielen Ländern der Welt" und die „Aussicht auf jahrelange Feindschaft mit dem nächsten Nachbarn".

Jabloko hat durch seine sehr aktive Rolle bei den Anti-Kriegs-Protesten ohne Zweifel wieder mehr an Profil in der russischen Opposition gewonnen. Doch bei der Emigrationswelle als Folge des Krieges haben vor allem eher gut ausgebildete und regierungskritische russische Bürger das Land verlassen.

Rybakow will in diesem Zusammenhang bewusst nicht von Auswanderung, sondern von „Relokation" sprechen: „Dies impliziert, dass die Menschen vorübergehend das Land verlassen, während sie auf einen Machtwechsel, einen Systemwechsel, einen Regimewechsel warten." Für die Sichtweise spricht, dass sich besonders viele Russen in Armenien, Kasachstan und Georgien niedergelassen haben. Von hier können sie relativ schnell wieder nach Russland einreisen, da die genannten Länder ihre Grenzen zum großen Nachbarn nicht ganz geschlossen haben. Damit wären diese Russen gleichsam die stille Reserve der russischen Liberalen. Und somit lebt die Hoffnung für Jabloko weiter, auch wenn der Druck des Staates der Partei aktuell nur sehr wenig Raum lässt.

Protest der Linken gegen den Krieg

Widerstand gegen den Krieg in der Ukraine gibt es auch auf der politischen Linken. Für manche Beobachter überraschend, kommt dieser auch aus Teilen der kommunistischen Partei Russlands. So protestierten vier kommunistische Duma-Abgeordnete öffentlich gegen den Angriff auf die Ukraine. Hunderte Mit­glieder der Partei solidarisierten sich mit ihnen.

Die Kritik an Putins Kriegskurs kommt vor allem von jüngeren Mitgliedern. Diese sind weniger als die ältere Generation durch die sowjetische Zeit geprägt und haben daher wenig Verständnis für Putins Bestreben, Teile der früheren Sowjetunion an Russland anzugliedern. Sie sehen vielmehr die Hauptaufgabe der Kommunisten im Widerstand gegen die Wirtschafts- und Sozialpolitik der russischen Regierung und sind zugleich eher reformorientiert als die alten Kader. Die Kritiker sind noch eine Minderheit in der kommunistischen Par­tei, die auch oft mit dem Begriff „Systemopposition" bedacht wird, doch mit Dauer des Krieges könnte ihre Zahl wachsen.

Vermutlich auch deshalb hat der langjährige Vorsitzende Gennadi Sjuganow, ein treuer Unterstützer Putins, die Abweichler hart abgestraft. Ein Teil von ihnen wurde aus der Partei geschmissen, einzelne sogar zu Haftstrafen verurteilt. Vorerst hat Sjuganow die Kritiker mundtot gemacht.

Sjuganow unterstützt den Krieg vorbehaltlos. Zu Beginn des Krieges organisier­ten die Kommunisten sogar Autokorsos zur Unterstützung Putins. Sjuganow: „Schmeißen wir die Bandera-Bande raus, die sich in Kiew eingenistet hat. Dieser Mob verschandelt unser Leben und lässt uns nicht Freunde sein."

Doch trotz der Ergebenheit Sjuganows gegenüber dem russischen Präsidenten kann sich der Kreml auf die Kommunisten nicht wirklich verlassen. Sjuganow, der fast 80 Jahre alt ist und schon in der Sowjetunion politische Karriere gemacht hat, repräsentiert die alte sowjetische Parteielite. Ob ein Nachfolger Sjuganows seinen Kurs fortsetzen wird, erscheint unsicher. Dann könnte die Stunde der „jungen Wilden" unter den Kommunisten schlagen.

Sobjanin und die vorsichtige Politik der Symbole

In der Darstellung der westlichen Medien unterstützt die Regierungspartei Einiges Russland Putins Feldzug in der Ukraine wie „ein Mann". Doch ein Mann, und ein recht wichtiger dazu, hat sich seit Anfang des Krieges auffällig zurückgehalten: der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin. In den ersten Monaten des Krieges wurde das berühmte Z-Symbol als Zeichen der Unterstützung des Kriegs gegen die Ukraine von öffentlichen Gebäuden der Stadt Moskau entfernt. Der Vorsitzende der Partei Gerechtes Russland, Sergej Mironow, beklagte sich öffentlich darüber und griff die Stadtverwaltung und damit auch Sobjanin an.

Während andere Politiker schnell den russischen Truppen einen Besuch abgestattet hatten, verweigerte sich Sobjanin monatelang dieser Form des Fronttourismus und besuchte die Soldaten erst im letzten Dezember, also zehn Monate nach Beginn des Krieges. Offensichtlich hatte er dem massiven Druck aus der Umgebung von Putin und der Armee nachgeben müssen, denen Sobjanins fehlende Unterstützung nicht verborgen geblieben ist.

Sobjanin ist ein recht erfolgreicher Bürgermeister. In einem Interview mit der Moskauer Deutschen Zeitung lobte sogar der frühere Duma-Abgeordnete Ilja Ponomarow, ein scharfer Kritiker Putins, das Moskauer Stadtoberhaupt: „Ich glaube, dass das Moskau Sobjanins äußerst erfolgreich ist. Es gibt vieles, das mir gefällt: die Sanierung des Zentrums, die städtebaulichen Initiativen, ebenso die Neuorganisierung des Straßenverkehrs und die Entwicklung des Nahverkehrs." Wobei Ponomarow aber sein Lob auch einschränkt: „Wenn es im Land eine progressive Führung geben würde, wäre jemand wie Sobjanin außerordentlich wertvoll. Aber unter den Bedingungen der Machtvertikale Wladimir Putins würde er meine Stimme nicht bekommen."

Es wäre vermessen, Sobjanin als einen Oppositionellen zu bezeichnen. Dazu ist er viel zu sehr Machtpolitiker. Und er weiß genau, dass es unter den jetzigen Umständen mit seiner Macht schnell vorbei wäre, wenn er sich offen gegen den Krieg positioniert. Sollte jedoch Putins Abenteuer in der Ukraine scheitern oder zumindest nicht die erhofften Erfolge bringen, könnte Sobjanin auch in der gesamtrussischen Politik eine wichtige Rolle zufallen.

Der r ussische Politologe Abbas Galljamow sagt: „Er wäre aufgrund seiner Seriosität in der Lage, sowohl mit der Ukraine als auch mit dem Westen in den Dialog zu treten". Und noch ein weiterer Punkt spricht für Sobjanin: Er wäre auch für den in Russland so wichtigen Geheimdienst und das Militär halbwegs akzeptabel.

Das langfristige Ziel: Ein stabiles Russland

Ein Fazit: Deutschland und die EU sollten jetzt den Dialog mit den russischen politischen Kräften außerhalb des Kremls suchen. Dabei sollte es keine Rolle spielen, ob diese sich in Russland befinden oder ins Ausland emigriert sind. Vor dem Hintergrund der zunehmenden politischen Repression in Russland ist dies schwierig, aber keinesfalls unmöglich. Es wäre eine neue Form der Geheimdiplomatie - fast wie in Zeiten des Kalten Krieges.

Auch wenn es gegenwärtig wenig Proteste gegen den Krieg gibt, heißt das nicht, dass die Mehrheit der Bevölkerung ihn wirklich unterstützt. Vielmehr weisen Analysten darauf hin, dass sich das ganze Land quasi in einer Art Wartezustand befindet. Seit dem obskuren Marsch der Wagner-Söldner auf Moskau erscheint Putins Autorität angeschlagen. Berlin und Brüssel sollten sich also auf mögliche Veränderungen an der russischen Staatsspitze vorbereiten - und das geht nur im Dialog mit den gemäßigten Kräften in Russland.

Schon die immer wieder auftretenden Gerüchte um die Gesundheit des 70-jährigen Putin als auch die wenig durchsichtige innenpolitische Lage in Russland machen dies notwendig. Das langfristige Ziel sollte ein friedfertiges und stabiles Russland sein, das sich auf die Entwicklung seiner Wirtschaft und seiner großen Ressourcen konzentriert, anstatt seine Nachbarn zu bedrohen.

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