Hilko Paulsen: Richtige Entspannung empfinde ich beim Einlaufen selten, denn da ist man sehr, sehr fokussiert, dass auch alle organisatorischen Prozesse glatt laufen. Dass man zum Beispiel nicht vorneweg rennt und die Mannschaften kommen nicht hinterher. Das wäre ein bisschen blöd. Gelegentlich ist aber auch Zeit, mit den Spielern in Kontakt zu kommen. Aber um eines klarzustellen: Den Applaus am Anfang gibt es nicht für den Schiedsrichter.
Wie stressig ist die Aufgabe als Schiedsrichter?Paulsen: Viele denken, Schiedsrichter seien permanenter Kritik ausgesetzt, alle würden nur meckern, seien unzufrieden, man bekomme wenig Anerkennung. Aber dem ist gar nicht so. Es gibt schon Formen der Anerkennung, die man von Zuschauern, Spielern und Trainern bekommt. Man sollte aber vorsichtig sein, wie das in der konkreten Situation gemeint ist.
Haben Schiedsrichter eigentlich einen Matchplan?Paulsen: Als Schiedsrichter muss man mit einer gewissen Strategie an ein Spiel herangehen. Im Amateurfußball kommen noch ein paar spezielle Themen hinzu. Im Einzelfall kann es beispielsweise sinnvoll sein, wenn der Regen den Rasen durchnässt hat oder der Platz enger ist, ein bisschen kleinlicher zu agieren, um zu sehen, wie sich das Spiel entwickelt. Ein andermal wollen die Mannschaften Fußball spielen, und da kann man dann auch eher mit einer langen Linie reingehen.
Die Strategien der Schiedsrichter sind dabei sehr individuell und meist an ein paar zentralen Fragen orientiert: Womit komme ich gut in ein Spiel rein? Was sind meine Stärken? Gibt es Gelegenheiten, die ich suchen kann, um mit den Spielern in Kontakt zu treten, um frühzeitig Botschaften zu platzieren, wie ich das Spiel leiten möchte?
Das klingt aber schon nach ein bisschen Stress?Paulsen: Schiedsrichter erfahren einen moderaten Stress. Viele Spiele verlaufen sogar total stressfrei. Natürlich vorausgesetzt, dass die Schiedsrichter den Anforderungen gewachsen sind. Dass sie gelernt haben, mit Kritik umzugehen, Ruhe in eine Partie zu bringen und dadurch das Spiel unter Kontrolle zu halten.
Bei Fehlentscheidungen, Strafstoßentscheidungen oder Platzverweisen kann das Spiel natürlich kippen. Auch bei Rudelbildungen kommt eine immense Hektik rein. In solchen Situationen ist wichtig, dass die Schiedsrichter vorbereitet sind. Ich vergleiche das mit einem Piloten, der auch darauf gefasst sein muss, dass ein Notfall eintritt. Da muss er auf Strategien zurückgreifen können, die ihm helfen, die Ruhe zu bewahren.
Wie sehen diese Strategien aus?Paulsen: Bei der Rudelbildung gibt es klare Abläufe: Wo gehe ich hin, wo lenke ich mein Blickfeld hin? Dann die Absprache mit den Assistenten: Wann spreche ich mich ab? Dann ist es auch wichtig, aus der Distanz zu beobachten. Für mich als Schiedsrichter habe ich gelernt, in solchen hektischen Situationen wirklich bewusst zu sagen: Ich mache jetzt einen Schritt nach dem nächsten. Und dann handle ich das entsprechend ab. Dazu versuche ich, durch meine Körpersprache die entsprechende Ruhe auszustrahlen.
Sie sind Sportpsychologe. Welche zusätzlichen Methoden bietet dieses Fachwissen?Paulsen: Ein Ansatz ist natürlich, Selbstgespräche zu führen. Sozusagen positiv wieder reinzugehen, sich noch einmal an die eigenen Stärken zu erinnern. Und was natürlich auch hilft, ist, vor oder nach einem Spiel sich immer wieder mit solchen Situationen auseinanderzusetzen, sich darauf vorzubereiten, dass so etwas passieren kann. Nicht zuletzt ist es effektiv, in den entsprechenden Momenten auch richtige Visualisierungen abrufen zu können. Also mit inneren Bildern zu arbeiten. Zum Beispiel sich daran zu erinnern, was man in der Vergangenheit gut gemacht hat, um dann zügig den Blick auf das zu lenken, was im Jetzt gerade akut ist. Es gibt nichts Schlimmeres, als in der Vergangenheit zu verharren und das Spiel läuft weiter.
Was sind die größten Fehler, die ein Schiedsrichter in einer Stresssituation machen kann?Paulsen: Stress ist hochgradig individuell. In der Psychologie reden wir ja vom Stress als Anpassungsreaktion des Organismus. Konkret: Auf dem Feld passiert irgendwas. Der Trainer brüllt, der Spieler brüllt, es gibt eine strittige Entscheidung, und das verursacht dann bei einem Schiedsrichter ein Stresserleben. Das kann dann ganz individuell sein. Infolgedessen kann er in ein Grübeln geraten, woraufhin vielleicht das Selbstvertrauen sinkt. Oder aber man reagiert gereizt, was aus psychologischer Sicht eigentlich unglaublich spannend ist. Weil dadurch natürlich schnell eine negative Dynamik reinkommt, eine richtige Abwärtsspirale.
Viele Schiedsrichter bestätigen, dass man aufpassen muss, bei aufkommender Kritik nicht gereizt zu reagieren. Das passiert aber dennoch immer mal wieder. Als Schiedsrichter muss man dann den Bogen bekommen und ruhige Ansprachen wählen. Dass ist herausfordernd, weil der Schiedsrichter zum Akteur wird. Im besten Fall behält er die Kontrolle über die Situation, indem er beruhigend einwirkt. Oder er verschärft die Stresssituation. Und dann wird es ein Sumpf, aus dem man nur ganz schwer wieder herauskommt.
Ein konkretes Beispiel aus meiner eigenen Erfahrung: Ein Spieler fällt zu leicht im Strafraum. Es war aber auch nicht klar genug für eine Schwalbe. Ich entschied mich, das nicht umkommentiert zu lassen, und hab dann deutlich zu verstehen gegeben, dass ich das jetzt nicht angemessen fand. Der Spieler beschwerte sich, wie ich mit ihm rede. Und dann setzte ein Reflexionsprozess bei mir ein: Ja, eigentlich wollte ich das so gar nicht machen.
Dann bin ich zu ihm hingegangen, habe ihn ruhig angesprochen: 'Tut mir leid, war ein bisschen zu emotional. Du weißt ja, wie ich es meine.' Und er meinte: 'Ja, hast ja recht, kann ich ja durchaus verstehen. Aber wir können ja auch normal miteinander sprechen.' Und dann hatten wir plötzlich eine perfekte Gesprächsebene.
Werden Schiedsrichter in ihrer Ausbildung gezielt auf Stress vorbereitet?Paulsen: Stress ist auf den Lehrabenden immer ein Thema. Und da werden auch gewisse Strategien behandelt. Auch ich als Psychologe durfte das machen. Insgesamt gibt es zwei Zugänge: einerseits über die Emotionen, andererseits über das konkrete Problem.
Emotionszentriert wird versucht, die eigenen Gefühle zu reduzieren. Dann muss ich in mich gehen, für mich wieder Ruhe in das Spiel bringen. Ein klassischer Tipp ist, die Spielfortsetzung zu verzögern. Der Ball bleibt dann kurz liegen und wir atmen einmal durch. Der Schiedsrichter kann sich in der konkreten Situation die Zeit nehmen, Spieler anzusprechen, um dadurch beruhigend einzuwirken.
Und dann gibt es die problemzentrierten Strategien. Das bedeutet vor allem, dass ich präventiv handeln muss und frühzeitig negative Entwicklungen erkennen. Wenn also zwei Spieler im Zweikampf immer wieder aneinander geraten, ist es ratsam, sie frühzeitig anzusprechen, damit die Situation nicht erst eskaliert. Das sind Maßnahmen, die ich als Schiedsrichter abrufen kann, um nicht erst in eine extrem schwierige Lage zu kommen. Wenn es allerdings doch so weit gekommen ist, kann es auch die Situation geben, wo ich durchgreifen und Präsenz zeigen muss. Beispielsweise durch eine Gelbe Karte eine Grenze ziehen.
Ist ein guter Sportpsychologe auch ein guter Schiedsrichter?Paulsen: Ich würde sagen, ein guter Schiedsrichter ist auch ein guter Sportpsychologe. Denn der Schiedsrichter muss ein Gefühl dafür entwickeln, wie die Menschen ticken. Er muss sich mit dem Erleben und dem Verhalten von Spielern auseinandersetzen. Von daher agiert er auf dem Platz als Psychologe. Und dies sehr praktisch, sehr anwendungsbezogen, und vor allem in einem sehr kurzen Zeitrahmen von 90 Minuten.
Das Interview führte Mathias Liebing