Martina Kix

Chefredakteurin ZEIT CAMPUS, Hamburg

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Artikel

Suizid: Schwerer Stoff

An einer der besten Modeschulen der Welt hat ein Student Selbstmord begangen. Er löste eine Debatte darüber aus, wie viel Druck Studenten brauchen, um Großartiges zu schaffen - und wann es zu viel wird.

Dieser Text stammt aus der neuen Print-Ausgabe von ZEIT CAMPUS mit dem Titelthema "Zimmer gesucht! Wie du eine Wohnung findest - und daraus dein Zuhause machst". Das Heft kannst du jetzt am Kiosk, in vielen Mensen oder hier kaufen.

Eine Sirene kreischt, und die Modenschau beginnt. Durch einen schwarzen Vorhang treten Models ins Scheinwerferlicht. Sie tragen Oberteile, die aussehen wie gigantische Hüte, enge Overalls mit aufgesprühtem Sonnenbrand oder orangefarbene Tüllkleider, die weniger an Mode erinnern als an Insekten von einem anderen Planeten. Die Kleider haben die Studenten einer der wichtigsten Modefakultäten der Welt entworfen, an der Königlichen Akademie der Schönen Künste in . Einmal im Jahr zeigt jeder Student seine fertige Kollektion. Die Modenschau dauert etwa vier Stunden, rund viertausend Besucher kommen an diesem Wochenende im Juni.

Kaum eine Modeakademie bietet ihren Studenten eine größere Bühne. Die Regenten der Modewelt bewerten die Kollektionen: In der ersten Reihe sitzt eine 15-köpfige Jury. Der Designdirektor von Prada ist da, der Kreativdirektor von Balenciaga und die stellvertretende Chefredakteurin der italienischen Vogue. Sie werden von den Studenten wie Popstars gefeiert und umschwärmt. Vor allem aber versprechen sie Kontakte für die wichtigen Jobs bei den großen Modehäusern. Auf den ersten Blick wirkt an diesem Wochenende alles wie immer.

Doch etwas ist anders in diesem Jahr.

Einer fehlt.

Zehn Wochen zuvor, am Nachmittag des 21. März 2018, verschickte die Sekretärin eine Mail an alle Studenten. Sie sollten am kommenden Morgen um 10.15 Uhr in die Akademie kommen. Walter Van Beirendonck, der Leiter des Studiengangs, wartete dort mit mehreren Psychologen. Er sagte: "Etwas Schlimmes ist passiert." Einer von ihnen, Song Seung Hyun, hatte sich in seiner Wohnung das Leben genommen.

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Die Dozenten und die Studenten waren geschockt. Einige weinten. So erzählt es einer, der dabei gewesen ist. Schnell verbreitete sich das Gerücht, der Leistungsdruck sei zu hoch und einer der Gründe für den Selbstmord. Ein Artikel im Fachmagazin Business of Fashion, eine der wichtigsten Zeitschriften der Modewelt, befeuerte die Diskussion. Darin berichteten Studenten von einer "vergifteten Arbeitsatmosphäre" und "unrealistischen Erwartungen der Dozenten". Das Pensum sei nur mit Drogen und Schlafentzug zu schaffen, hieß es. Seitdem ist die Akademie in zwei Lager gespalten. Die einen sagen: Endlich wird darüber gesprochen, was alles schiefläuft. Die anderen meinen: So sei das eben, Qualität komme von Qual. Songs Name wird in der Debatte zum Symbol. Für Leistungsdruck. Für Stress. Für Überforderung. Sein Schicksal führt zur Frage: Wie hart muss es an einer der wichtigsten Modeschulen der Welt zugehen, um Großartiges zu schaffen? Und wie viel ist zu viel?

Suizid-Berichterstattung

ZEIT ONLINE geht behutsam mit dem Thema Suizid um, da es Hinweise darauf gibt, dass bestimmte Formen der Berichterstattung zu Nachahmungsreaktionen führen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nennen dieses Phänomen Werther-Effekt, in Anlehnung an Goethes Roman Die Leiden des jungen Werther, nach dessen Veröffentlichung sich eine Reihe junger Männer das Leben nahm.

Nachdem der deutsche Nationaltorwart Robert Enke 2009 sein Leben beendet hatte, nahm die Zahl der Suizide auf Bahnstrecken in Deutschland zu. Markus Schäfer und Oliver Quiring von der Universität Mainz berichten, dass in den ersten vier Wochen nach Enkes Tod in Deutschland 133 Suizide mehr verzeichnet wurden, als laut der amtlichen Todesursachenstatistik für diesen Zeitraum zu erwarten gewesen wäre ( Schäfer & Quiring, 2013).

In der Psychologie gibt es verschiedene Erklärungsansätze für den Werther-Effekt. Als anerkannt gilt vor allem die Theorie des Modelllernens des Psychologen Albert Bandura, die besagt, dass sich Menschen Verhaltensweisen aneignen, die sie zuvor bei anderen Menschen beobachtet haben - besonders, wenn sie sich mit der Person identifizieren können.

Untersuchungen legen nahe, dass bestimmte Formen der Berichterstattung ein besonders hohes Identifizierungspotenzial bieten und deshalb vermieden werden sollten ( Ziegler & Hegerl, 2002). Eine umfassende Untersuchung von Forschern der New Yorker Columbia University hat gezeigt, dass häufige, prominente und reißerische Berichterstattung über Suizide Jugendliche zur Nachahmung motiviert ( Gould et al., 2014). Es ist wahrscheinlich, dass soziale Medien den Werther-Effekt noch verstärken, untersucht wurde das bislang nicht.

Die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention rät dazu, keine Fotos oder Abschiedsbriefe der betreffenden Person zu veröffentlichen und heroisierende oder romantisierende Beschreibungen des Suizids zu vermeiden. Das Motiv für die Selbsttötung dürfe höchstens allgemein, aber nicht als nachvollziehbar dargestellt werden. Der Deutsche Presserat empfiehlt ebenfalls Zurückhaltung. Dies gelte insbesondere für die Nennung von Namen und die Schilderung näherer Umstände wie Ort und Methode der Selbsttötung.

Völlig ausklammern wird ZEIT ONLINE das Thema Suizid nicht, da es gesellschaftlich relevant ist und viele Menschen betrifft, etwa schwer an Depressionen Erkrankte oder Angehörige.

Suizidgedanken ähneln einem Teufelskreis, der unausweichlich scheint, sich aber durchbrechen lässt. Häufig sind sie eine Folge psychischer Erkrankungen wie Psychosen, Sucht, Persönlichkeitsstörungen und Depressionen, die mit professioneller Hilfe gelindert und sogar geheilt werden können.

Betroffene finden zum Beispiel Hilfe bei der Telefonseelsorge unter den Telefonnummern 0800 - 111 0 111 und 0800 - 111 0 222. Die Berater sind rund um die Uhr erreichbar, jeder Anruf ist anonym, kostenlos und wird weder von der Telefonrechnung noch vom Einzelverbindungsnachweis erfasst. Direkte Anlaufstellen sind zudem Hausärzte sowie auf Suizidalität spezialisierte Ambulanzen in psychiatrischen Kliniken, die je nach Bundesland und Region unterschiedlich organisiert sind. Eine Übersicht über eine Vielzahl von Beratungsangeboten für Menschen mit Suizidgedanken gibt es etwa auf der Website der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention.

Wer den Verdacht hegt, dass ein Freund oder Angehöriger an Suizid denkt, sollte ihn zunächst darauf ansprechen und dabei unterstützen, professionelle Hilfe zu suchen. Wichtig sei es, auf Warnsignale zu achten und diese ernst zu nehmen - etwa 80 Prozent aller Selbsttötungen werden zuvor angekündigt.

Besorgniserregend seien nicht nur klare Suiziddrohungen und -ankündigungen, sondern auch indirekte Äußerungen der Hoffnungslosigkeit wie "Es hat alles keinen Sinn mehr" oder "Irgendwann muss auch mal Schluss sein". Zudem könnten bestimmte Verhaltensweisen auf Suizidgedanken hindeuten. So wollen suizidgefährdete Menschen häufig ihre Angelegenheiten ordnen, also zum Beispiel Wertgegenstände verschenken oder ihr Testament aufsetzen. Auch stimmt der Entschluss zur Selbsttötung manche Menschen mit Depressionen ruhiger und weniger verzweifelt, was häufig als Besserung des psychischen Zustands missinterpretiert wird.

Hilfe für Angehörige bietet neben der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention auch der Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker unter der Rufnummer 0180 - 59 50 951 und der Festnetznummer 0228 - 71 00 24 24 sowie der E-Mail-Adresse seelefon@psychiatrie.de.

ZEIT CAMPUS hat mehr als zwanzig Studentinnen und Studenten kontaktiert, um etwas über den Alltag an der Akademie zu erfahren. Acht waren bereit, Fragen zu beantworten. Einige von ihnen haben ihren Abschluss geschafft, einige haben abgebrochen, andere sind von der Akademie geflogen. Sie erzählen von Zeitmangel, fehlender Betreuung und Rassismus. Und sie hoffen, mit ihrem Bericht etwas zu verändern für die nächste Generation. Drei von ihnen werden in dieser Geschichte zu Wort kommen. Wir nennen sie Paul, Kay und Mark, denn sie möchten anonym bleiben. Zu groß ist ihre Angst, für Kritik an der Akademie mit schlechten Noten abgestraft zu werden oder einen Job nicht zu bekommen.

"Wenn man Mode studieren will, wird man oft belächelt", sagt Paul. "Deshalb wollte ich auf eine Uni mit Ruf." Wie viele, die sich bewerben, träumte der 25-Jährige davon, irgendwann als Designer bei einem großen Haus zu arbeiten, vielleicht bei Prada oder Comme des Garçons. Ein Abschluss in Antwerpen sollte die Türen dorthin öffnen. Die alte Hafenstadt mit den verwinkelten Gassen gehört zwar nicht zu den Mode-Metropolen wie London, Paris oder New York. Doch sie hat sich einen Namen gemacht, weil sie eine Avantgarde ausbildet.

Antwerpen habe eine Aura, behaupten viele, was auch an den Antwerp Six liegt. Eine Gruppe von sechs Absolventen, die sich Mitte der Achtziger selbstständig machte und die Mode revolutionierte. Sie war nicht von italienischer und französischer Haute Couture beeinflusst, sondern vom Punk und von komplizierten Schnitten aus Japan. Zu ihr zählen Stardesigner wie Dries Van Noten oder Ann Demeulemeester. Später wurde auch Martin Margiela dazu gezählt. Seitdem hat die Akademie immer wieder erfolgreiche Designer hervorgebracht: Einer von ihnen ist Demna Gvasalia, der 2014 zusammen mit seinem Bruder das Label Vetements gründete. Er sorgte für Aufsehen, weil er gelbe DHL-Shirts und schwarze Polizei-Regencapes als Prêt-à-porter-Mode verkaufte. Balenciaga, eines der wichtigsten Modehäuser, besetzte ihn daraufhin als Kreativdirektor.

Doch solche Karriereträume erfüllen sich nur für wenige. Meist schafft nur die Hälfte einer Klasse den Sprung ins nächste Semester. Von etwa 60 Bachelorstudenten im ersten Jahr machen nur etwa zehn den Master.

In einem selbst genähten blauen Hemd dreht Paul sich eine Zigarette und sagt: "Ich war nicht für die Schule gemacht." Sein Problem: das Nähen. Er sei zu langsam gewesen. Vor Antwerpen hatte er ein Grundlagenjahr an einer anderen renommierten Modeschule absolviert, der Central Saint Martins in London. Doch das reichte nicht. "Nur wenn ich jeden Tag zwölf Stunden gearbeitet hätte, hätte ich die Aufgaben vielleicht geschafft."

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