Viele deutsche Kirchen verlieren Mitglieder. Die Freikirche Hillsong wächst. Ist sie ein notwendiges Update fürs Christentum? Oder nur Marketing?
Jasmine und ich kennen uns seit zwei Minuten. Mit strahlend weißen Zähnen grinst sie mich an und nimmt meine Hand: "Komm, wir gehen nach vorne!", sagt sie. Sie zieht mich durch die Menge in einem der legendären Konzertsäle New Yorks, dem Hammerstein Ballroom, nur wenige Blocks vom Empire State Building entfernt. In der vergangenen Nacht hat Marilyn Manson hier gespielt, in ein paar Tagen tritt Kesha auf. An diesem Sonntagabend im Oktober kommen Fans, um ihrem allmächtigen Star zu huldigen: Gott.
Die Lobpreisung beginnt. Die Sängerin auf der Bühne erinnert mich mit ihren langen, lockigen Haaren und ihrer Akustikgitarre an Alanis Morissette. Bärtige Männer in Holzfällerhemden und Frauen mit Flechtfrisuren strecken ihre Arme in die Luft, schließen die Augen und wiegen sich zur Ballade. Sie singen: "What a beautiful name it is! The name of Jesus Christ my king!" Kaum jemand, der heute hier ist, scheint älter als 35 zu sein, alle sehen aus wie Popstars.
Ich befinde mich auf einem Gottesdienst der Freikirche Hillsong, die so schnell wächst wie kaum eine andere Kirche, jeden Tag schließen sich ihr Menschen an. Einen Satz, den ich immer wieder höre: "Wir wollen helfen, die Kirche zu bauen." Viele Unternehmen träumen von einem internationalen Wachstum, wie Hillsong es erlebt. Gegründet wurde die Kirche 1983 in Australien, heute hat sie Gemeinden in 19 Ländern. Weltweit besuchen nach eigenen Angaben mehr als 100.000 Menschen ihre Gottesdienste, allein in New York sollen es etwa 9.000 sein, in Deutschland 3.000. Auch in Konstanz, München und Düsseldorf stehen Gläubige Schlange.
Für mich war Kirche nie sexy, immer zugig und dunkel, harte Holzbänke und das Röcheln von Omas. In den USA hat es Hillsong geschafft, Stars wie Justin Bieber und Kendall Jenner zu bekehren und auch Tausende in ihrem Alter. In New York, Düsseldorf und Konstanz besuche ich Gottesdienste der Freikirche und frage mich: Kann Hillsong auch mich begeistern? Ist Hillsong ein Update, das die Gemeindehäuser und Kirchenlieder dringend brauchen? Oder handelt es sich lediglich um gutes Marketing, um mehr Schein als Sein in der Hipster-Kirche?
"Bist du ein Feiertagschrist?", schreit Pastor Carl Lentz in seiner Predigt in New York und meint damit Leute wie mich, die höchstens an Weihnachten in die Kirche gehen. "Oder sprichst du jeden Tag zu Gott?" Der 38-Jährige trägt den Talar der Hillsong-Kirche: enge, schwarze Hose, schwarzes Sakko, goldene Pilotenbrille und Chelsea Boots. Ein Hipster-Pastor, made in heaven. "Habt ihr einen Fidget-Spinner? Meine Kinder wollten unbedingt einen haben", ruft Lentz. "Bald redet niemand mehr davon! Gott ist kein Hype! Gott wird bleiben!" Seine Predigt ist eine Mischung aus Anekdotensammlung und Bibelzitaten. Der Pastor klingt eher wie ein Poetryslammer. Seine Botschaft ist dennoch eindeutig: Höre auf Gott, und bleibe bei Hillsong.
Vor sieben Jahren predigte Carl Lentz zum ersten Mal in New York. Heute gehört er zu den bekanntesten Hillsong-Pastoren weltweit. Mehr als eine halbe Million Menschen folgen ihm bei Instagram, mehr als 150.000 bei Twitter. Ende Oktober ist seine Biografie Own The Moment erschienen und bei Amazon gleich an die Spitze der christlichen Buch-Charts geschossen. Berühmt wurde er als Mann, der Justin Bieber taufte. In der Badewanne von NBA-Star Tyson Chandler.
Lentz liest Teile seiner Predigt vom iPad ab, seine Gemeinde tippt Notizen ins Smartphone. Er redet über Yoga, Veganer und Tinder-Dates. "Willst du Sex mit diesem Typen? Frag dich: Was würde Jesus tun?", fragt Lentz seine New Yorker Gemeinde. Das klingt liberal. Hillsong gerät aber immer wieder in die Kritik, weil Pastoren wie Carl Lentz sich gegen Sex vor der Ehe aussprechen und Homosexuelle in der Freikirche keine Führungsrollen übernehmen dürfen. Der Hillsong-Gründer, Brian Houston, schrieb in einem offiziellen Statement: "So if you are gay, are you welcome at Hillsong Church? Of course!" Und weiter:"Can you take an active leadership role? No."
Jasmine, die mich beim Konzert in die erste Reihe gezogen hat, streamt einen Teil des Gottesdienstes mit ihrem Smartphone. Die 32-Jährige liebt diese Musik, sagt sie, und diesen Pastor, weil er so "real" sei. "Der Gottesdienst gibt mir Energie für die Woche", sagt Jasmine, die in einem Hotel arbeitet und morgen um vier Uhr aufstehen muss. Seit fünf Jahren besucht sie regelmäßig Gottesdienste und Bibelstunden. Heute will sie für ihre Familie in Puerto Rico beten.
Für mich ist diese Form von Kirche neu, die Party, die Predigt, die superfreundlichen Leute wie Jasmine. Ich bin nicht besonders religiös. Früher war das anders. Als Kind war ich fast jeden Sonntag um 11 Uhr im Kindergottesdienst im Gemeindehaus Otterheide in Herford. Als Teenager habe ich für den Konfirmandenunterricht Psalmen auswendig gelernt und Gemeindebriefe von Haus zu Haus getragen. Kurz nach der Konfirmation beschloss ich, nicht mehr in die Kirche zu gehen. Andere Dinge wurden wichtiger: auf Konzerten von Punkrock-Bands pogen oder mit Skatern abhängen. Ich habe Kirche getauscht gegen Jugendkultur. Wenn ich heute mit meinen Freunden über Kirche rede, dann darüber, ob es okay ist auszutreten. Rund 350.000 Mitglieder traten 2016 aus der evangelischen und katholischen Kirche in Deutschland aus.
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