
Jede Stunde prüft Professor Leonid Sokolov die Trichterfallen. An manchen Tagen beringen die Forscher bis zu 9000 Vögel © Fabian Weiss
Ein Deutscher gründete 1901 in Ostpreußen die erste Vogelwarte der Welt, heute markieren russische Forscher dort jährlich Hunderttausende von Vögeln - eine wichtige Einnahmequelle für die Wissenschaftler ist der Tourismus
Die ersten Vögel müssten schon in die Falle geflogen sein. Um acht Uhr morgens macht sich Professor Leonid Sokolov, 69 Jahre, eisklare Augen, auf den Weg durch den Kiefernwald. Das Gezwitscher schwillt an. Bald mündet der Trampelpfad in die Dünen, wo eine gigantische Konstruktion aus Fischernetzen steht: am Eingang 15 Meter hoch und 30 Meter breit, 70 Meter lang. Sokolov läuft hinein. Die Falle wird enger und führt in einen mannshohen Käfig, in dem rund zwei Dutzend Vögel flattern. „Das sind Buchfinken und Rotkehlchen", sagt der Professor, „sie legen in einer Nacht bis zu 400 Kilometer zurück." Mit kreisenden Bewegungen pflückt er sie von den Käfigwänden und steckt sie behutsam in seine Netzkiste.
Die Vögel sind von ihrem Winterquartier in Südeuropa auf dem Weg in ihre Brutheimat auf dem Baltikum. Die Falle auf der Kuhrischen Nehrung, einer Halbinsel an der Ostsee westlich von Litauen und der russischen Oblast Kaliningrad, liegt auf ihrem Weg. Hier ruhen sie sich aus, suchen nach Insekten und fressen sich Fett für den Weiterflug an. Im Jahr 1901, als dieses Gebiet zu Ostpreußen gehörte, gründete der deutsche Ornithologe Johannes Thienemann im Küstendorf Rossitten die erste Vogelwarte der Welt. Seit dem Zweiten Weltkrieg kreuzen die Zugvögel hier russisches Territorium. Aus Rossitten wurde Rybatschi, russische Wissenschaftler eröffneten 1956 an alter Stelle eine neue Vogelwarte.
Professor Leonid Sokolov hat heute Dienst in der Feldstation Fringilla. Die eingefangenen Vögel trägt er in ein Holzhäuschen. Seit 43 Jahren kommt er zur Zug-Saison aus Sankt Petersburg. Er zieht den ersten Buchfinken aus seiner Kiste und biegt einen nummerierten Aluminiumring um das Vogelbein. „Wir haben in den vergangenen 60 Jahren rund drei Millionen Vögel beringt", sagt Sokolov, „manchmal waren es 9000 am Tag." Mit flinken Händen steckt er den Buchfinken kopfüber in ein Röhrchen auf einer Digitalwaage, notiert Gewicht, Ringnummer, Geschlecht und ob es sich um einen Jungvogel handelt. Er pustet die Bauchfedern zur Seite und prüft die Fettreserve am Hals. Ein Gramm gibt Energie für einen Nonstop-Flug von 200 bis 300 Kilometern. Dann entlässt Sokolov den Vogel durch das offene Fenster.
Mit der Beringung experimentierte bereits die deutsche Vogelwarte Anfang des 20. Jahrhunderts. Als Sohn eines Pastors hatte Johannes Thienemann zunächst Theologie studiert. Sein Forscherdrang zog ihn auf die Kurische Nehrung. Die Artenvielfalt begeisterte ihn, doch weckten die davonziehenden Vogelschwärme auch Groll: „Denn unwillkürlich drängt sich die Frage auf unsere Lippen: Woher kommt ihr? Wohin geht ihr? Sobald die Vögel unseren Blicken entschwunden sind, hört die Forschung auf." Die nummerierten Ringe sollten das ändern.
Thienemann fasste einen ehrgeizigen Plan: Immer wenn ein Vogel mit Ring irgendwo auf der Welt gefunden und den Wissenschaftlern gemeldet würde, wüsste man etwas mehr über die Flugrouten seiner Art. Heute sind diese gut dokumentiert, dennoch ist die alte Methode aufschlussreich: Die Ornithologen erfahren etwa, wie sich Vogelpopulationen verändern und welchen Einfluss der Klimawandel auf Anzahl und Flugverhalten hat. Natürlich wird bei Weitem nicht jeder Vogel wiederentdeckt, von drei Millionen beringten waren es bisher gerade 12 000.
Leonid Sokolov überprüft die Falle einmal pro Stunde. Im Laufe eines Frühlingstags kommen Kohlmeisen, Mönchsgrasmücken, Wintergoldhähnchen - und jede Menge Touristen. Pro Jahr besuchen bis zu 30 000 Menschen die Feldstation, vor allem Russen. „Für sie ziehe ich jetzt meine Uniform an", sagt Professor Sokolov, als der erste Bus vorfährt. Er meint die Kette mit dem Waldohreulen-Anhänger und den Anglerhut, den eine Feder des seltenen Seeadlers schmückt. Die Schülergruppe, die sich jetzt nähert, ist aus dem mehr als 5000 Kilometer entfernten Irkutsk in Sibirien angereist. Sokolov zeigt ihnen die Quietschemaus, mit der die Forscher Eulen anlocken, und erläutert das Zwitschern des männlichen Buchfinken anhand des Vergleichs mit einem russischen Rockstar: „Er signalisiert damit, dass er jetzt eine tolle Wohnung hat. Je schöner er singt, desto mehr Weibchen wollen sich mit ihm paaren."
Auch wenn sich die Fragen der Wissenschaftler geändert haben, fasziniert der Vogelzug weiterhin Experten wie Laien. Man staunt über den Kuckuck aus Kamtschatka im Osten Russlands, der bei seinem jährlichen Vogelzug rund 35 000 Kilometer fliegt, einmal nach Südafrika und zurück. Die Mönchsgrasmücke fliegt drei Tage und Nächte nonstop über das Mittelmeer oder durch die Sahara und legt dafür zuvor 100 Prozent ihres Körpergewichts in Fett zu. Rätselhaft bleibt den Menschen vor allem, wie die zielsichere Navigation der Vögel funktioniert: Manche landen Tausende Kilometer entfernt von ihrer Heimat auf demselben Baum wie im Winter zuvor.
Im Hauptgebäude der Vogelwarte versucht Direktor Nikita Chernetsov, 46, das Mysterium der präzisen Orientierung zu ergründen. Dabei helfen ihm und seiner Forschungsgruppe die Rotkehlchen im ersten Stock, die in ihren Käfigen auf alten sowjetischen Wetterkarten hocken und in einem Salat aus Eiern, Karotten, Käse und Würmern picken. „Zugvögel folgen einem inneren Kompass sowie einer inneren Karte", sagt Chernetsov, „sie orientieren sich also mittels zweier getrennter Prozesse." Die Richtung finden Vögel anhand von Sonne, Sternen und Magnetfeldern. Den Raum erfassen sie wohl ebenfalls über Magnetfelder sowie über ihren Geruchssinn. „Offen ist noch die Frage, wie Vögel Magnetfelder überhaupt sensorisch wahrnehmen können", sagt Chernetsov. Vielleicht wird die Antwort darauf eines Tages in Rybatschi gefunden.
Die Besucherströme in der Außenstation Fringilla sind für die Vogelwarte und ihre Forschung überlebenswichtig, auch wenn an sonnigen Tagen bis zu 800 Touristen die wissenschaftliche Arbeit spürbar bremsen. Direktor Chernetsov verdankt ihnen rund 20 Prozent seines Budgets. „Die meisten sind nicht mal interessiert an Vögeln, sondern kommen zum Badeurlaub her", sagt er. Die wachsende Beliebtheit der Kurischen Nehrung wundert ihn ein wenig, „das hat sich erst in den letzten 15 Jahren so entwickelt." Eine mögliche Erklärung hat er dann doch parat: Der fallende Rubelkurs habe Urlaub in der EU für viele Russen wohl zu teuer werden lassen, „die Gegend hier gilt für manche als das kleine Westeuropa innerhalb Russlands". Dann schmunzelt er. „Ich halte das für nicht ganz zutreffend." Aber zum Glück, sagt der Direktor, sei seine Meinung in dieser Frage nicht wichtig. Hauptsache, die Zukunft der Vogelforschung in Rybatschi ist erst einmal gesichert.