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Arbeit am offenen Mann

Was ist Männlichkeit? Was ein guter Mann? Unser Autor sucht Antworten auf einem Männerfestival. Zwischen Tänzen und Kämpfen findet er wahrhaftige Erkenntnisse.

Ausgelaugt von der Summe meiner zweifelhaften Entscheidungen biege ich in einen Rasthof kurz vor Sachsen. Es ist acht Uhr morgens an einem Samstag, seit fünf Stunden bin ich auf der Straße. Ich halte in einer Parkbucht. Um mich herum spucken Trucker Zahnpasta ins Gras. Allesamt Männer, vereinzelte, in die finanzielle Abhängigkeit getriebene Männer mit Nummernschildern aus Osteuropa.


Ich erinnere mich daran, wie meine Chefin meinte: Du musst nicht zu dem Männerfestival. "Ne ne ne ne, alles gut, ich schaff das", beruhigte ich sie. Seit Wochen schlafe ich schlecht. Trotzdem wunderte ich mich, als mir mitten auf der Autobahn die Augen zufielen. Die ganze Zeit über hatte mir meine Müdigkeit gedroht – und jetzt stand sie plötzlich vor mir und umarmte mich, kurz und gewaltvoll. Ich biege auf den Rasthof ab.


Das Bild von Männlichkeit hat in den vergangenen Jahren massiv gelitten – und das zu Recht. Um die Fakten der Scham kommt man nicht mehr herum. Jeden dritten Tag tötet in Deutschland ein Mann seine Partnerin. AfD-Wähler sind zu zwei Dritteln Männer. Frank Thelen ist ein Mann und Knossi auch. Männer in ihrer klischeehaften Männerhaftigkeit schaden anderen, schaden sich selbst. Sie überschätzen sich öfter, leben ungesünder, wickeln ihre Autos öfter in Leitplanken und sterben im Schnitt fünf Jahre früher als Frauen.


Dann, während ich am Parkplatz meine Jacke zu einem Kissen zusammenrolle und an der kalten Scheibe verorte, beobachte ich einen Trucker, wie er in seinen Smartphone-Screen grinst, die Augen aufgerissen wie ein madagassischer Lemur. Mit den rechten Fingern spielt er Luftklavier. So peinlich und so schön telefoniert man nur mit seinem Kiddo. Er auf diesem Parkplatz, die Familie nur ein bewegtes Bild hinter Glas, was für eine arme Sau.

Als ich, wieder zurechnungsfähig, die letzten Kilometer nach Chemnitz nehme, zur Festivallocation, passiere ich all die Orte, die uns Männern regelmäßig ungeile Publicity einbringen. Plauen (Nazis), Zwickau (Nazis), ja generell: die Autobahn. Aber zu irgendetwas muss das Konzept Männlichkeit doch gut sein?


Zu dem Männerfestival in Chemnitz haben sich 50 Männer angemeldet. Ich stelle sie mir als suchende Männer vor, ein bisschen eso, ein bisschen lost, aber auch reflektiert. Auf der Internetseite versprechen die Veranstalter einen "lebendigen und intensiven Eindruck" davon, wie sich "kraftvolle, herzliche und selbstbestimmte Männlichkeit" anfühlt. Auf dem Plan stehen unter anderem Yoga, Kuschelkurse und Sharing-Runden, in denen die Männer ihre intimsten Gefühle teilen sollen, außerdem maorischer Kriegstanz und eine Kakaozeremonie mit "Shamanic Ecstatic Dance". Diese Dinge sollen uns helfen, uns mit "unserer Kraft" und mit anderen Männern "zu verbinden". Es gibt auch Bogenschießen. Weil ich weiß, dass ich manchmal ein zynischer Depp bin, nehme ich mir vor, mich extra stark auf das einzulassen, was da kommt. Oh boy.


Das Festival findet auf einem kleinen Grundstück statt, versteckt hinter einem Fahrraddiscounter. Auf der einen Seite ist Wald, auf der anderen ein überlebensgroßer Zaun aus Holz. Es gibt einen Sandkasten und ein Essenszelt, in dem schon jetzt enorme Töpfe mit Suppe über Feuerschalen baumeln. Gegenüber steht ein weiß-rotes Plastikzelt mit ein paar Matratzen auf dem Boden. Daneben hat jemand auf einen Karton gezeichnet: MANNSEIN ❤️ BERÜHRT. Frauen sind hier nicht erlaubt. Das sei ein "geschützter" Raum, schrieb mir einer der Veranstalter wenige Tage zuvor. Trotzdem werden Frauen in den kommenden Tagen unentwegt Thema sein, als Mütter, Partnerinnen, Töchter, Geliebte, Verschmähte, Tyranninnen und Bezugsgrößen, um die eigene Persönlichkeit auszuloten.


Bei der Anmeldung lerne ich die zwei Grundregeln des Festivals. Erstens: Tiere sind meine Freunde. Ich esse meine Freunde nicht. Zweitens: Hier wird geduzt.  


Die Begrüßung findet in einer Kirche statt: Buntglasfenster, Stuhlreihen und von der Decke hängen runde Kronleuchter, die aussehen wie die Mutation der Brille von John Lennon. Von der Kanzel aus kann man den Sound und das Licht steuern. An ihr hängt Werbung für einen Motorradfahrergottesdienst.


Schauen wir uns beim Reingehen zufällig in die Augen, folgt der universal männliche Begrüßungsakt: Lippen zusammenpressen, vielleicht die Augen etwas kneifen, kurz zunicken, und das Leben geht weiter.


Als alle sich gesetzt haben, gehen die Veranstalter Thomas, Fred und Dirk, nach vorne. Sie stehen Arm in Arm. Sie schauen uns an. Wir schauen sie an. Schauen, schweigen, schauen, atmen. Ich werde nervös, ich halte diese Stille nicht aus. Sagt mal irgendwer was? Thomas' tiefe Stimme erlöst mich. "Hallo Männer", sagt er. "Vielen Dank fürs Kommen. Das ist sehr, sehr wertvoll." 


Dann erzählt Thomas, 45, dichter Bart, wie er seine Ehe an die Wand gefahren hat. Er sei, sagt er, eher das dritte Kind gewesen als der Vater. Er habe Aggressionen unterdrückt, bis sie urplötzlich aus ihm heraustraten. Auf seinem weißen T-Shirt steht "peace".

Fred, 37, breite Schultern, enges Oberteil, erzählt, wie er "Männerarbeit" lange belächelte. Jetzt habe er mehr Freude am Leben.


Und Dirk, 55, fuhr bis vor wenigen Jahren einen "fetten Porsche". Sein Restaurant auf der Reeperbahn lief gut, sagt er. Er habe es immer allen recht machen müssen, ein klassisches Muttersöhnchen sei er gewesen. Stress war das, immer Stress. Eines Tages habe sich seine innere Stimme gemeldet und ihm gesagt: Dirk, wenn du so weitermachst, stirbst du. Als Dirk das sagt, lässt er seinen Blick über die Runde schweifen. "Ich bin Sternzeichen Fische, so etwas macht was mit mir."


Danach versichern sie, dass es wirklich keinen Alkohol geben werde. Das sei wichtig, denn bei manchen Übungen könnte etwas zum ersten Mal ausbrechen. Ich mache mir Sorgen, denn das Etwas wird nicht weiter definiert.


Damit wir voll energetisch in den Tag reinkommen, erkunden wir zuallererst mit Fabian den "wilden Mann" in uns. Dafür sitzen wir im Kreis, die Schneidersitz-Dichte ist hoch. Fabian sagt: "Wir leben in einer Welt der Frauen." Überall flache Hierarchien, immer Gefühle zeigen, zurückhaltend sein. Dadurch hätten wir die Verbindung zu unserer Männlichkeit verloren, zu unserem Körper, den uns die Evolution die vergangenen Jahrtausende mitgegeben habe. Aus den Boxen ohmt ein Männerchor. "Männer", ruft Fabian, "warum seid ihr heute hier?" Wir antworten jeder der Reihe nach. 


Elias sagt: "Ich möchte mehr Selbstbewusstsein."

Moritz sagt: "Neugier."

Stephan sagt: "Ich will ein guter Vater sein."

Hannes sagt: "Ich will Verantwortung für meine Emotionen übernehmen."

Jeder muss seinen Satz mit "Hau" beenden. Die Runde brüllt dann ein "Hau" zurück. Und dann bin ich dran. 


"Hallo. Ich bin der Martin. Ich will herausfinden, was ein guter Mann ist."


Ich schaue in die Runde, die Runde schaut zurück. 


"Ach so. Hau."


Wir stehen auf, aus den Boxen schallt "Don’t worry, be happy". Dabei sollen wir durch den Raum schlendern und uns anlächeln. Lippen zusammenpressen, Nicken, Go. Irgendwann bleiben wir einfach alle stehen, wir sollen uns spüren. Fabian spaziert zwischen uns hindurch wie durch einen Skulpturengarten und gibt Anweisungen, wo wir hinspüren sollen.


"Spüre den Boden", sagt er.

"Spüre deinen Bauchraum", sagt er.

"Spüre deine Eier, deinen Arsch, spüre dein Geschlecht", sagt er.

"Die Evolution hat euch einen Körper gegeben", sagt er. "Zum Fressen, Ficken, Verteidigen."


Danach schlendern wir weiter. Wir suchen uns abwechselnd Partner, denen wir in die Augen schauen sollen. Lächeln ist verboten, damit ist meine erste Grenze erreicht, Albernheit ist mein Coping-Mechanismus, ich habe kein anderes Werkzeug, um unangenehme Situationen aufzulösen. Schon unangenehme Gedanken blocke ich mit permanent variierenden Beschäftigungen und zu viel Arbeit. Ich schlafe jeden Abend mit Podcasts ein, damit ich nicht an meinen Tod denken muss. Ich sage auch nie Nein, zu niemandem. Scheiße, hab ich mich mit meiner Ex-Freundin deshalb gestritten, sie empfand das jedes Mal als Affront. In meinem Kopf gehe ich die Nachrichten der letzten Woche durch, ich bin der Herr über meine Mundwinkel. Nach jedem Blickkontakt umarmen der andere Mann und ich uns wortlos. Ich werde nicht kichern. Nein, nein, nein. 


"Oben ist der Himmel, unten ist der Boden und in der Mitte ist der Mann", sagt Fabian.

Dann machen wir uns auf die Suche nach dem wilden Mann. Fabian stellt uns auf, immer fünf nebeneinander. "Den wilden Mann findet man am besten oberkörperfrei", sagt er. Fast alle streifen sofort ihre Shirts ab, ich auch. Vorne greift sich Fred in den Kragen und reißt seins einfach entzwei. Wie bei Hulk Hogan hängen ihm die Stofffetzen vom muskulösen Leib.


Der wilde Mann ist Schreien. Ohrenbetäubendes Schreien. Daniel, Thomas und Hulk Hogan machen es vor. Sie spannen ihre Körper an, fletschen die Zähne, Zungen raus. Sie stampfen links, stampfen rechts.


AHHHHHHHHHH.

ZZZZZZZZ.

WOU WOU WUUUUUU. 


Und jetzt wir. Trommelmusik für den Urzeitvibe. Als hautfarbenes Meer wippen wir von links nach rechts. Die ersten beginnen zu fauchen oder zu heulen wie Wölfe. Offene Handflächen klatschen auf nackte Haut. Ein Typ mit Pferdeschwanz vor mir, der, wie ich später erfahre, von seiner Freundin verlassen wurde, weil er ihr zu unmännlich war, trommelt sich wie King Kong auf die Brust. Er schlägt mit beiden Händen auf den Boden, richtet sich wieder auf, reckt die Arme nach oben und brüllt wie ein nordischer Death-Metaller gen Decke. Das muss dieses Etwas sein.


Ich wiederum komme mir vor wie Jimi Blue Ochsenknecht. Ich spiele einen "wilden Kerl" – und zwar ganz schlecht. Ich flexe ein bisschen rum, wie ein Bodybuilder mit ungebuildetem Body. Da kommt keine Energie in mir hoch, kein Ärger, keine Aggression. Als Kind bin ich ein paarmal ausgerastet, ich konnte nicht verlieren. Einmal unterlag ich so unglücklich in WWE 2008, einem Wrestling-Spiel für die Nintendo Wii, dass ich einem Freund in die Brust sprang, Füße voraus. Das kam nicht so gut an. Ich will leise sein. Die anderen schreien AHHHH, ich schreie: ah. Neben mir, sehe ich, geht es noch einigen so.


Danach stellen wir uns mitten im Raum auf, sortiert nach Gewicht, und bilden Paare. Ich stehe Moritz (groß, blond, 21) gegenüber. Ziel der Übung ist, erklärt Fabian, den anderen an die Kirchenwand zu drücken. Brust an Brust, Hände sind verboten. "Lasst eurer Männlichkeit freien Lauf", sagt Fabian, und schon lassen rundum die Männer los. Einer mit kurzen, blonden Locken macht mir Angst. Er schaut aus, als hätte ihn ein antiker Grieche aus Marmor gehauen. Durch seine weiße Haut sieht man Muskelstränge. Moritz und ich sehen uns überfordert an. Beide halten wir unsere Arme hinter den Rücken verschränkt und warten, bis Fabian "Los" ruft. Zweimal drücken wir dann die Brust zusammen. Mir hängen Schweißtropfen in den Brusthaaren, das tut mir leid für Moritz. Beide Durchgänge lande ich an der Wand. 


"Partnerwechsel", schreit Fabian da, und plötzlich stehe ich der Marmorstatue gegenüber. Fuck, denke ich bloß. Fuck. Fuck. Fuck. Er grummelt. Sein Blick ist starr auf mich gerichtet. Langsam wird er lauter, immer lauter. Ich muss da jetzt was dagegensetzen. Aber was? Ich flexe amateurhaft. Plötzlich kommt ein Schrei aus mir raus, wie ich ihn seit Jahren nicht von mir gehört habe. Ich bin ganz überrascht. Die Statue schiebt mich an die Kirchenwand wie ein Bulldozer.


Wie noch so häufig an diesem Wochenende bin ich nach der Übung völlig verloren. Was mache ich jetzt mit all den Aggressionen?


Fabian sagt: "All das rauszulassen, das tut uns gut."

Ich frage: "Stelle ich mich dann alleine in die Wohnung und schreie?"

Er: "Oder du gehst in den Boxclub. Das musst du selbst wissen."

Ich: "Aber was, wenn ich das nicht in mir habe? Was ist dann Männlichkeit?"

Er: "Ich will keine Ideale vorgeben. Aber zuallererst bist du ein Mann, wenn du einen Schwanz hast."

Dann fragt ein anderer nach guter Literatur. Fabian empfiehlt das Grimm-Märchen Eisenhans. Ich gehe.


Etwas abseits der anderen setze ich mich zu Moritz. Mit seinen weißen Sneakern sticht er aus der hohen Barfuß-und-Zehenschuh-Menge heraus. Er probiere gern neue Dinge aus, deswegen sei er hier, sagt er. Er ist wie ich etwas befremdet von dem, was da gerade passiert ist. Und von all dem Gerede von weiblichen und männlichen Energien. Weibliche Energie sei abtastend, männliche vorausgehend, hatte Fabian gesagt. "Als könnten Frauen keine Entscheidung treffen." Moritz schüttelt den Kopf.


Als ich vom nächsten Kurs zurückkomme, einer "Gruppenarbeit zum Verbinden", ist Moritz weg. Abgehauen, ohne ein Wort.


Dafür habe ich Hannes getroffen. Von Hannes, 36, ging diese einnehmende Ruhe aus. Drei Minuten sollen wir bei der Gruppenarbeit darüber reden, wann wir uns das letzte Mal richtig männlich gefühlt haben, und ich rede einfach drauflos: dass ich mich eigentlich noch nie nicht männlich gefühlt hätte. Ich würde mich ja jeden Tag im Spiegel sehen. Ich erzähle davon, dass ich lange gebraucht habe, um so etwas wie Gefühle artikulieren zu können. Dass ich es mir oft zu bequem gemacht habe in meinem Mannsein: Die Arbeitsteilung im Haushalt (oft nicht 50/50), das Zuspätkommen (permanent), die Löcher in (fast allen) Unterhosen, das Zu-spät-zum-Arzt-Gehen, das Probleme-mit-mir-selber-Ausmachen. Manchmal, sage ich, fühlte ich mich wie der Wikipedia-Eintrag eines Mannes.


Ich erinnere mich gut, wie mich Hannes danach anschaute, sein Blick war mitleidig. Er sagte: "Du hast eine sehr stereotypische Ansicht darüber, was ein Mann ist."


Später sagt Hannes zu mir, wie gierig er nach Anerkennung sei. Als Scheidungskind sah er seinen Vater nur alle zwei Wochen. In seiner Kindheit habe ihm da immer etwas gefehlt. "Jetzt brauche ich so viel, dass kaum einer nachkommt", sagt er. Ich muss sofort an meine Mutter denken, die, als ich ihr von meinem Volontariat bei einer Lokalredaktion erzählte, bloß fragte: Und für die Süddeutsche hat es nicht gereicht?


In der Kirche schaue ich einem Haufen oberkörperfreier Deutscher dabei zu, wie sie sich am maorischen Kriegstanz versuchen. Sie klatschen sich auf die Oberschenkel und tun so, als würden sie ein schweres Seil von hinten nach vorne wuchten. Dann sollen sie sich mit wedelnden Fingern symbolisch die Kehle freischneiden. "Was tragen die seriösen Eliten?", fragt der Anweiser. "Genau, Krawatten! Sie trennt den Kopf vom Herzen und vom Schwanz." Jetzt also fließt die Energie wieder. Alle schreien: SCHNITTAAAHHHH!


Aggression sei eine geile Sache, wenn man seine Frau beschütze, sagt der Anweiser am Ende. Aber was passiert mit all der Aggression, wenn ich sie in die Gesellschaft reinpeitsche? Er weiß es selbst am besten, in den Achtzigern war der Anweiser bei der Wiking-Jugend, einer neonazistischen Jugendorganisation. Auf seinem Blog hat er das selbst öffentlich gemacht und sich davon distanziert.


Gegen 13 Uhr bringt mir Hannes Qi Gong bei. Ich habe ihm von meinen immer schneller rasenden Gedanken erzählt. Jeden Tag, bis ich sie mit Spotify betäube. Ich soll meine Augen schließen, leicht in die Hocke gehen und die Hände vor mir zusammenführen, bis nur noch ein halber Meter Luft bleibt. Hannes glaubt, dass Heilung im Körper stattfinden kann. "Was spürst du?", fragt er. Und ich spüre tatsächlich, dass ich gern meine Ex-Freundin umarmen würde, mich entschuldigen. Sie hat mir gezeigt, wie weit ich meinen eigenen Ansprüchen hinterherhinke, ein guter Mann zu sein. Es tut mir leid, dass ich sie nie richtig verstanden habe und irgendwann auch nicht mehr wollte. Ein paar Wochen ist die Trennung jetzt her, seither auch der schlechte Schlaf. "Schau", sagt Hannes am Ende. Er lacht. "Und das waren nicht mal zehn Minuten."


Hannes und ich sprechen im Anschluss lange darüber, was nun eigentlich ein guter Mann ist – und wie man da hinkommt. Es sei unsere Verantwortung als Männer, die Probleme, die wir mit uns herumschleppen, nicht an die nächsten Generationen weiterzugeben. Es bleibe ein Prozess, sagt Hannes. Vielleicht endet er nie.


Am nächsten Morgen nehme ich die Autobahn zurück nach Hause und versuche die innerlichen San-Andreas-Verwerfungen, die dieses Wochenendes zurückgelassen hat, für mich einzuordnen. Die vielen Gespräche, aus denen Überforderung und Einsamkeit herausklangen. Die Überheblichkeit in anderen. Die irren Momente, als wir uns auf nackte Oberkörper klatschten. Und die leisen, in denen wir zu zweit in der Stille standen und manch einer zum ersten Mal einem anderen Mann die Schultern massierte. Ich denke an die "Ahnenreihe", das Rollenspiel, bei dem wir so tun sollten, als seien wir die Söhne, Väter und Großväter der jeweils anderen. Viele weinten dabei bitterlich. Es war purer emotionaler Exhibitionismus. Es war unfassbar anstrengend.


Was hilft es, wenn man nur fühlt, aber aus den Gefühlen hinterher nichts lernt? Wenn es am Ende wieder auf eine Männlichkeit zuläuft, die sich mit aller Macht in den Mittelpunkt rückt, ohne Rücksicht auf andere? Was hilft es, wenn ich nach innen ganz sensibel werde, aber nicht nach außen? Wenn ich vor allem meine eigenen Gefühle wahrnehme, aber nicht die der anderen? Ist das nicht vielleicht die wahre Falle, in die Männer seit Generationen getappt sind: Dass sie oft so unempfindlich waren für das Innenleben anderer?


Am Ende blieb für mich vom ganzen Wochenende ein einziger wirklich wahrhafter Moment zurück. Am Samstag hatte ich gemeinsam mit Hannes auf dem Boden der Kirche gesessen. Drei kahl geschorene Männer in Leinenoutfits hatten uns einen "besonderen Kakao" aus einem Kochtopf ausgeschenkt, der nach Schokobrunnen und Zartbitterschokolade schmeckte. Während der Prozedur sangen wir mantrahaft ein Loblied auf "Mama Kakao". Kakao könne auch Heilkräfte haben, sagten die Männer in Leinen. Die Wirkung sei fast schon psychedelisch, sagte Dirk. Jeder sollte einen Wunsch in den Kakao geben, die meisten nahmen Zufriedenheit. Dann tranken wir, sangen, tranken und sangen wieder. Nach einer Stunde standen wir auf. Die Leinen-Männer begannen, auf Felltrommeln zu schlagen. Langsam fingen wir an, für uns selbst zu tanzen. Wir bewegten uns fast zärtlich. Dann wilder, immer wilder, wilder, wilder.


Plötzlich entdeckte ich Hannes in diesem Getümmel. Um ihn herum riss sich ein Mann nach dem anderen das Shirt herunter. Manche jaulten, manche grölten, manche rasselten und trommelten. Einer der Leinen-Männer kurvte mit einer einen Meter langen Blockflöte wie im Standsprint durch die schweißnassen, nackten Oberkörper, sie schimmerten im roten Licht der Kirche. Jemand kniete am Boden, als würde er nach Mekka beten, und riss die Arme nach oben. Jaaaaaaaa, schrie er. Jaaaaaaaa!


Und mitten in all dieser Ekstase war Hannes. Er hatte die Hand auf dem Herz und die Augen geschlossen. So stand er einfach nur da und schwieg.

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