1 Abo und 2 Abonnenten
Artikel

Corona-Hobby Angeln: Auf den Fisch gekommen

Rund um die großen Städte sind die Flüsse und Seen voll, erst recht seit Corona: Menschen angeln - auch die 27-jährige Ida Bachmaier. Und das, obwohl sie Vegetarierin ist.

An diesem Donnerstag bricht Ida Bachmaier wieder aus, es ist das erste Mal seit Langem. Als würde sie dem Wasser nicht wehtun wollen, watet sie durch den Fluss. Schritt für Schritt, immer tiefer hinein, ihren Blick konzentriert unter die Oberfläche gerichtet. In der Ferne rauschen Autos über eine Brücke.


Bachmaier ist heute zum ersten Mal zum Angeln in diesem Teil der Isar, direkt unter einem Stauwehr, auf der anderen Flussseite erstreckt sich der Englische Garten. Wie verschwommen wirke der vergangene Sommer, wenn sie zurückdenke, sagt sie. Die meisten Tage hat sie in ihrer Münchner Wohnung verbracht, vor dem Laptop, vor ihrer Masterarbeit. Doch dieser Alltag, die Hektik, die Stadt sind gerade ganz weit weg.


Plötzlich bleibt sie stehen. Da ist etwas. Sie hebt die Angel in ihrer rechten Hand, mit der linken zieht sie die Schnur lang. Ein-, zwei-, drei-, viermal schwingt sie die Rute seitlich am Körper, beim fünften Mal lässt sie die Schnur los. Etwa 20 Meter weiter sinkt der Angelhaken ins Wasser. Dann steht Bachmaier da – und wartet.


Wie Bachmaier findet gerade eine Generation wieder, was viele verloren geglaubt haben. Eine echte Leidenschaft, nur für sich, ohne höheres Ziel: ein Hobby. Dabei gab es schon Abgesänge auf das Hobby. Zu verstaubt der Begriff, zu vielfältig die Konkurrenz durch Social Media oder Streaming. Sich intensiv mit nur einer Sache zu beschäftigen: schwierig. Das scheint vorbei zu sein. Im Jahr 2019 gaben im Freizeitmonitor der Stiftung für Zukunftsfragen noch 40 von 100 jungen Erwachsenen an, dass sie mindestens einmal in der Woche einem Hobby nachgehen. Zwei Jahre später war die Zahl um mehr als die Hälfte gestiegen.


Nun gibt es viele Hobbys: Fußballspielen ist ein gängiges, Malen oder Brotbacken. Ida Bachmaier hat sich das Angeln ausgesucht – obwohl sie Vegetarierin ist. Und damit ist sie nicht allein.


Das Angeln habe in den vergangenen Jahren sein altbackenes Image abgelegt, sagt Robert Arlinghaus, der seit Jahren zu dem Thema forscht, inzwischen als Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin und am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei. Die Landflucht, die Flucht in die Natur, sagt er, habe auch das Angeln wieder attraktiver für eine ökologisch sensible Generation gemacht. Dazu kämen die Fishfluencer:innen, unter die sogar Rapper Sido oder Twitch-Entertainer Knossi gegangen sind. Als die beiden – zusammen mit einem irren Cast aus dem Streamer MontanaBlack und Many Marc von der Quatsch-Hip-Hop-Gruppe Die Atzen – live auf Twitch angelten, war das im deutschsprachigen Raum zwischenzeitlich der meistgeschaute Stream.


Aber ob dieser Trend sich zum Beispiel in den Erwerbszahlen für Angelscheine durchschlage ... puh, das wisse er nicht, sagt Arlinghaus. Angeln sei Ländersache, und viele Behörden und Landesangelverbände sammelten kaum Daten dazu. Wenn man sich dann durch diese Verbände telefoniert ... dieselbe Antwort.


Nur so viel weiß man: In Deutschland angeln fast sieben Millionen Menschen. Der Deutsche Angelfischerverband meldet nach Jahren der Stagnation fünf Prozent mehr Mitglieder für 2021, einzelne Landesverbände sogar bis zu zehn. Im Großraum München haben viele Angelvereine einen Aufnahmestopp verhängt, weil die Nachfrage nach Mitgliedschaften so groß ist. Die Seen um die Großstädte, das sagen die Verbände, seien voll. Und die Flüsse auch.


Wer mit Ida Bachmaier unterwegs ist, lernt viel darüber, warum das so ist. Aber auch, warum so viele junge Erwachsene ihre Hobbys verlieren – und wie sie sie wiederfinden können.


Bachmaier ist Stadtkind, ihr ganzes 27 Jahre dauerndes Leben schon. Sie ist in München geboren, sie lebt in München – mit einer Ausnahme: vier Jahre in Hongkong. Bachmaier studiert sogar Städteplanung. Für ihre Masterarbeit forscht sie zu Verkehr und Mobilität in Quartieren. Trotzdem treibt es sie in die Natur – oder vielleicht genau deshalb.

Die Nachmittagssonne brennt auf ihrer Haut, als sie und ihr Freund Jens Schundelmeier, 34, an diesem Donnerstag gegen 15 Uhr an der Isar ankommen. Die beiden waten in die Mitte des Flusses und legen ihre Ruten auf einem der zwei Kiesbetten ab. Bachmaier trägt zwei Brillen, eine mit Stärke auf ihrer Nase, eine mit polarisierenden Gläsern auf der Kappe. Damit wird sie die Fische besser durch die Wasseroberfläche sehen. Sorgfältig fädelt sie die Schnur durch die Ringe der Rute. Ans Ende bindet sie eine »Fliege«, eine Gebilde aus Garn, Federn und einem Haken. Es soll Insekten imitieren, Bachflohkrebse, Maifliegen, Heuschrecken.


Angler:innen müssen das Ökosystem kennen, in dem sie sich bewegen. Welche Fische leben im Gewässer und wo? Wann fressen sie? Was fressen sie? Angeln ist ein Strategiespiel mit der Natur und in der Natur. Und es ist nach wie vor ein männerdominiertes Hobby, der Frauenanteil liege bei nur etwa sieben Prozent, sagt Fischereiprofessor Arlinghaus, Tendenz leicht steigend. Immerhin.


Bachmaier kam durch Schundelmeier zum Angeln. Ende 2019 erwarb der den Angelschein, die Voraussetzung fürs Angeln, weil er mehr Zeit in der Natur verbringen wollte. 2022 zog Bachmaier nach. Seitdem gehen sie zusammen angeln, in Österreich, in den Voralpen und in Schweden waren sie schon. Und heute eben an der Isar.


»Und, hast du schon einen Biss gehabt?«, fragt sie.
»Nein, nein«, antwortet er.
»Wirklich? Nicht mal gezuckelt?«, fragt sie.
»Doch, einmal, der hat den Haken wieder ausgespuckt.«


Ihre Leidenschaft sei immer schon das Wasser gewesen, erzählt Bachmaier. Als Kind sprang sie als Erste in den See, auch wenn sie wusste, dass sie danach bibbernd am Ufer sitzen würde. Bis sie 14 Jahre alt war, schwamm sie in einem Verein. Dann zog ihre Familie von München nach Hongkong. Der starke Leistungsgedanke dort, auch im Schwimmsport, das sei nichts für sie gewesen, sagt sie. Also gab sie ihre Leidenschaft auf. Sie schaute fern, telefonierte viel und traf sich mit Freund:innen – ein Haufen Beschäftigungen, aber kein Hobby.


Kinder haben oft ein riesiges Spektrum an Interessen. Bachmaier zum Beispiel ging früher außer zum Schwimmen noch zum Reiten, sie rannte mit ihren Freundinnen über den Bolzplatz, weil sie die neuen, weiblichen »Wilden Kerle« werden wollten. »Sobald junge Menschen aber aufgrund von Ausbildung oder Studium umziehen, brechen die Hobbys oft ab«, sagt Renate Freericks, die an der Hochschule Bremen erforscht, wie Menschen ihre Freizeit verbringen. Sie würden aus bisherigen Strukturen gerissen und fänden sie selten wieder. »Zudem erwartet die Arbeitswelt von jungen Leuten, ortsunabhängig und flexibel zu sein«, auch das sagt Freericks.


Wie soll sich abseits davon etwas festigen, wenn man vielleicht jederzeit davon ablassen muss? Bachmaier sagt, sie habe zwar nie aufgehört, neue Dinge auszuprobieren, aber so richtig fündig geworden sei sie nicht. Bis zu dem Tag, an dem sie zum ersten Mal angeln war.


Spaß – oder die eigene Moral?

Es war ein milder Herbsttag im Jahr 2021 mitten in den österreichischen Alpen, dort braucht man in manchen Gewässern keinen Angelschein. Schundelmeier wollte ihr das Angeln zeigen, also stellte sie sich neben ihn an den Rand einer Forellenfarm, die Fische schwammen in Betonbecken. Sie erinnert sich an das meditative Gefühl, im Wasser zu stehen. Und dann biss plötzlich einer an. »Ich hab es erst mal gar nicht gecheckt, bis Jens plötzlich schrie: ›Du hast 'nen Biss, du hast 'nen Biss!‹ Ich hab angezogen, da ist mir fast der Arm abgefallen. Das war richtig kraftvoll. Ich war erst mal geschockt. Das ist ja ein Lebewesen, das da zieht.«

Dann seien ihr die angefressenen Flossen aufgefallen, dazu der Pilz auf den Schuppen des Fischs. Trotzdem: Das Angeln habe sich anders angefühlt als alles, was sie bisher gemacht habe. Die Ruhe am Wasser, das Adrenalin, wenn einer anbiss. Aber wollte sie wirklich ein Lebewesen töten? Diese Ambivalenz zwischen Spaß und der eigenen Moral aufzulösen ... Bachmaier sagt: »Das war ein Prozess.«


An der Isar zeigt sie jetzt, was sie mit einem gefangenen Fisch machen würde. Wie sie ihn erst messen würde. Sie hat gelernt, dass man Fische je nach Art, Fangzeitpunkt und Größe zurücksetzen muss: Sie sollen mindestens einmal laichen können, um ihren Bestand zu erhalten. Wenn er aber groß genug wäre, würde sie ihren Priest herausholen, einen Holzstock mit einem Metallkopf. »Und dann muss ich ihm eine auf die Rübe geben«, sagt sie. Zack, ein gezielter Schlag auf den Hinterkopf. Danach spürt der Fisch nicht mehr, wenn sie das Messer am Kiemendeckel ansetzt.


Ein Fisch sei ein elegantes Lebewesen, sagt sie. Er sei aber auch kein Babywelpe. Sie zögert etwas. Sie kann ihn nicht richtig beschreiben, diesen Moment. »Man macht dann einfach.« Und isst den toten Fisch später auch, klar. Sonst sei er ja verschwendet.

Bachmaier und Schundelmeier sind ans Flussufer gewandert. Seit zwei Stunden sind sie nun im Wasser, bisher hat nichts angebissen. Sie haben über die richtigen Stellen gesprochen, ob sie nun Nassfliegen als Köder benutzen sollen oder Trockenfliegen. Die meiste Zeit haben sie geschwiegen, zehn Meter auseinander. Sonst kämen sich die Ruten ja in die Quere.

»Das richtige Hobby schafft auch Gemeinschaft. Eine Gesellschaft kann sich nur gut entwickeln, wenn ihre Mitglieder auch Gemeinschaft erleben.«

Renate Freericks, Freizeitforscherin


Ein Hobby erzeugt einen ganz eigenen Mikrokosmos an Wissen und Interessen. Man tauscht sich untereinander aus, will mehr lernen, sich hineinfuchsen. Freizeitforscherin Freericks sagt: »Das richtige Hobby schafft auch Gemeinschaft. Eine Gesellschaft kann sich nur gut entwickeln, wenn ihre Mitglieder auch Gemeinschaft erleben.« Während der Pandemie hat das oft gefehlt. Viele Menschen seien auf sich selbst zurückgeworfen worden. Einige hätten auf frühere Hobbys zurückgegriffen, einige hätten neue Dinge ausprobiert, sagt Freericks.

Denn dafür war endlich Zeit. »Ein Hobby fliegt einem ja nicht zu.« Die Pandemie war ein riesengroßes Ausprobieren. Seitdem gebe es auch »eine Renaissance des Draußen«, wie Freericks es nennt, gerade bei den jungen Menschen. Über die Hälfte der Befragten zwischen 18 und 24 Jahren im Freizeitmonitor gaben 2021 an, mindestens einmal pro Woche in der Natur zu sein. Nur der Anteil der Ruheständler:innen war genauso hoch.


Das Angeln passt gut in diese Zeit. Es war meist coronaregelkonform. Und es bringt den Menschen mit der Natur zusammen, mit ihren guten Seiten und mit ihren schwierigen. Eine Stunde später harren Bachmaier und Schundelmeier noch immer im Wasser aus, ohne Fang. Ein paar Meter weiter steht Klaus Betlejewski auf dem Kiesbett, ein gemütlicher Münchner in Altersteilzeit und Filzhut. Er ist Vorsitzender der Isarfischer, des Angelvereins der beiden, und auch zum Angeln hier. Heute sind viele Barben im Wasser.

»Wie schmeckt denn eine Barbe?«, fragt Schundelmeier und schaut zu Betlejewski.
»Ich hab noch keine gegessen, aber sie haben viele Gräten«, antwortet der.

Die drei fachsimpeln über den Geschmack von Döbeln und Forellen, die sie eigentlich fangen wollen. Die Fischpopulation ändere sich, sagt Betlejewski. Früher sei hier die Äsche der Leitfisch gewesen, heute sei sie fast verschwunden. Die begradigten Flüsse, die Hormone im Abwasser, die Schadstoffe im Boden, die Turbinen von Tausenden Wasserkraftanlagen, bei deren Passieren im Schnitt jeder fünfte Fisch stirbt. Zum Schluss noch die Klimakrise. 24 Grad Celsius Wassertemperatur könnten für Äschen und Forellen tödlich sein, sagt Betlejewski. »Diesen Sommer hatte die Isar schon mal 23 Grad.«


Wer in Deutschland angelt, beschäftigt sich auch mit diesen Dingen. Auf beinahe jedem Gewässer hierzulande liegt ein sogenanntes Fischereirecht. Angelvereine, Verbände und Privatpersonen müssen dieses Recht pachten. Wer angeln will, muss wiederum eine Erlaubnis beim Inhaber des Fischereirechts kaufen. Mit dem Geld muss der dann dafür sorgen, dass der Fischbestand erhalten und das Gewässer ein guter Lebensraum bleibt. Und wenn es zu wenige Fische gibt, müssen die Angelvereine die Gewässer ökologisch aufwerten, die Entnahme beschränken oder die Fische irgendwo kaufen und neu einsetzen: einerseits, damit sie angeln können, andererseits, damit die Fischpopulation überhaupt in den Gewässern bleibt.


Es ist paradox: Würden Bachmaier und die anderen nicht angeln, gäbe es wahrscheinlich weniger Fische. Das sei für sie letztendlich auch der Grund gewesen, sich trotz ihrer Bedenken für das Angeln zu entscheiden, sagt sie. Und dafür, ihren Fang zu essen. Sie weiß, wo das Tier herkommt und dass sie sein Leben so schmerzlos wie möglich beendet hat. Sie weiß, dass sie für ihr Essen gearbeitet hat. Sie sagt: »Ich kann es ganz anders genießen.«


Ein paar Tage später wird Bachmaier erzählen, wie es später, als es schon dunkel war, doch noch an ihrer Schnur zog. Wie sie zu kurbeln begann gegen den Widerstand, wie die Aufregung kam, wie sie versuchte, den Fisch immer näher an sich heranzuziehen, um zu sehen, welcher es ist. Eine Regenbogenforelle. Sie habe den Kescher hervorgeholt. Und dann auf der Kiesbank wiederholt, was sie ein paar Stunden zuvor gezeigt hatte. Zu Hause, erzählt Bachmaier, hätten ihr Freund und sie die Forelle in einer Tajine angemacht, einem marokkanischen Tongefäß, in dem man Eintöpfe schmoren lässt. Dazu Zwiebeln, Kartoffeln, Auberginen, Oliven, Kreuzkümmel, grobes Salz. Es habe geschmeckt, »richtig lecker«.

Ein Zeitforscher hat einmal gesagt: »Zeit ist für den Menschen das, was für die Fische Wasser ist. Ein Element, in dem sie sich bewegen. Die schwimmen darin, ohne nachzudenken, worin sie schwimmen.« Ein Hobby aber ist der Versuch, sich in diesem Element zu orientieren und sich zu nehmen, was einen glücklich macht. Und manchmal ist das eben ein Fisch.

Zum Original