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Schmutziges Öl von netten Leuten

In der kanadischen Provinz Alberta lieben sie ihr Öl und fördern wie verrückt. Gleichzeitig will man hier natürlich ganz vorbildlich klimaneutral werden. Das kann doch nicht funktionieren. Oder?

Der Ort, der für so viele Emissionen verantwortlich ist wie kaum ein anderer auf der Welt, liegt eine gute halbe Autostunde nördlich der 70 000-Einwohner-Stadt Fort McMurray. Robbie Picard freut sich auf die Fahrt. Der Sommer in Fort McMurray sei besonders schön, sagt er. Er hat seinen Bus schwarz lackiert, wie es sich für einen Pro-Öl-Aktivisten gehört.


Überhaupt ist vieles an Picard schwarz: das T-Shirt mit dem Namen seiner Organisation „Oilsands Strong“, die Haare, die Parteifarbe (konservativ), der Humor.

Picard steuert den Bus auf den Highway Richtung Norden, vorbei an Wald. Schilder an der Straße erklären, dass der Wald zwischendurch mal weg war: gerodet, um Öl zu fördern. Als wäre das eine Sehenswürdigkeit.


Das würde einigen in Alberta so passen. In diesem riesigen Bundesstaat Kanadas liegt so viel Öl in der Erde wie auf keinem anderen Flecken im sogenannten Westen. Nur Venezuela, Saudi-Arabien und Iran haben mehr im Boden. Die Rohstoffindustrie steht für fast 25 Prozent der Wirtschaftsleistung Albertas. Hier fahren die Leute noch richtig Verbrenner. 3,6 Millionen Fahrzeuge laufen hier mit Sprit, nur rund 3600 Autos fahren elektrisch. Öl ist Albertas Identität. Und jetzt, nachdem die Europäer aus russischer Energie aussteigen wollen, freut sich der Alliierte Kanada auf noch mehr großes, dreckiges Geschäft. Picard stoppt seinen 45 Jahre alten Bus.


Nachts ist der Himmel hier lächerlich voll mit Sternen. Sie spiegeln sich in den giftigen Abwasserseen, in dem die nicht recycelbare Mischung aus Wasser, Öl, Sulfur und Stickstoff dümpelt.


Der Ausblick ist fast so schön wie dystopisch. Es riecht, als hätte jemand Plastik in ein Lagerfeuer geworfen. Öl-Fan Picard weiß es besser: Es riecht nach Sulfur.

In Irak muss man nur in die Erde bohren, dann kommt das Öl schon. In Albertas Ölsänden ist die Sache aufwendiger. Sie auszubeuten, gehört zu den teuersten und umweltschädlichsten Möglichkeiten der Energiegewinnung, die die Menschheit kennt. Man drückt mit Chemikalien versetzten Wasserdampf in den Boden, so löst sich das Öl vom Sand. Um den Wasserdampf herzustellen, muss man erst mal Erdgas fördern, um es verbrennen und aus Wasser den benötigten Dampf zu machen. Dafür geht fast ein Drittel des Erdgases in Kanada drauf. Die jährlichen Treibhausgasemissionen der Ölsand-Industrie belaufen sich laut der Regierung Albertas auf etwa 70 Millionen Tonnen pro Jahr. Das ist fast viel wie die Emissionen von ganz Österreich.


Leonardo DiCaprio hat Robbie Picard zum Aktivisten gemacht. Nachdem der Schauspieler im Privatjet gelandet war, flog er mit dem Helikopter über die Ölsände, wie die Rohstofffelder hier heißen, um für eine Dokumentation über die Klimakrise zu filmen. Man sieht schwarzen Dreck, kilometerweit, und ein paar Straßen dazwischen. „Es sieht aus wie Mordor“, sagt der Aktivist DiCaprio. Ein Öl-Manager sitzt neben ihm und versteht ihn nicht. „Mordor. Wie in ‚Herr der Ringe‘.“ Diesem Eindruck will Picard etwas entgegensetzen.


Er dachte sich: Wenn Umweltschützer Graswurzelbewegungen gründen, um gegen die Öl-Industrie zu kämpfen, dann brauche die Branche selbst auch eine Graswurzelgegenbewegung. Die Vereinigung „Oilsands Strong“ organisiert Proteste. Picard steht im Zentrum, er befüllt mehrmals täglich die Facebook-Seite mit einer Mischung aus emotionalisierten Geschichten über das Glück des Öl und Memes im „Früher war alles besser“-Stil. 225 000 Menschen haben die Seite abonniert. Picard ist hervorragend vernetzt. Wenn man einen Termin mit der Handelskammer Fort McMurray vereinbart, wird er automatisch eingeladen. Er und sein Team finanzieren sich über Spenden, im Shop gibt es Tassen, Mützen und Hoodies für 75 kanadische Dollar.


Picard erzählt stolz, wie er einmal Jane Fonda, die Schauspielerin und Klimaaktivistin, auf einem Supermarktparkplatz angeschrien habe. Als Greta Thunberg gekommen sei, habe er überlegt, ob er auch sie anschreien sollte. Immerhin habe keiner so viel „Schaden“ verursacht wie sie. „Aber ein Erwachsener, der ein Kind anschreit, kommt nicht so gut“, sagt er und lacht.


Ölaktivisten haben sich viel von Umweltschützern abgeschaut

Das Anschreien, das Emotionalisieren, das Agitieren in den sozialen Medien, das habe er sich übrigens von Umweltschützern abgeschaut, sagt er. Nur dass er nicht gegen milliardenschwere Unternehmen und mächtige Politiker antritt, sondern an ihrer Seite streitet. 2019 eröffnete Picard zusammen mit dem Ministerpräsidenten Albertas einen „War Room“, der Alberta gegen ausländische „Lügen und Diffamierungen“ schützen soll. Kritiker nennen es eine „staatliche Propaganda-Agentur“ mit einem Budget von 21 Millionen US-Dollar. Picard hatte die Pressekonferenz eröffnet, indem er ein Plakat hochhielt, auf den er den Kopf einer Umweltaktivistin gedruckt hatte. „Feind der Ölsände“, hatte er daruntergeschrieben.

Fort McMurray kennt das Auf und Ab. Bisher waren es nur die Wellen der Weltkonjunktur, die stärker über die Stadt niederkamen als anderswo: Wollen alle Öl kaufen, strömt Geld nach Fort McMurray, Gehaltschecks werden in Pizzen und Kokain investiert. Als Ende 2014 der Ölpreis fiel, gingen die Gewerbesteuereinnahmen der Stadt runter, 2015 war Fort McMurray insolvent.


Doch nun trifft etwas Neues die Stadt: der Klimawandel.


Fort McMurray leidet unter Waldbränden, in denen Menschen ihre Häuser verlieren.

2020 zerstörte eine Flut Teile der Gemeinde. „Ein Sechstel der Stadt stand unter Wasser“, sagt Don Scott. Er war damals Bürgermeister von Fort McMurray. Er ist Mitte 50, gebürtiger Ire, ein Drei-Tage-Bart-mit-Glatze-und-Sportsakko-Typ. Einer, der anpackt. „Der Klimawandel betrifft uns direkt.“


Selbst in dem Ort, der weltweit zu einem Symbol für die immensen Folgeschäden fossiler Energie geworden ist, denken sie nun darüber nach, ob das so weitergehen kann. Optimisten, und das sind die Menschen in dieser Gegend, würden zu ihrem CO₂-Fußabdruck sagen: großes Einsparpotenzial vorhanden.

Scott kann erzählen, wie sich Fort McMurray für die Zukunft ausgerichtet hat. Drei Dinge haben sie hier vor: Öl wollen sie weiter aus den Böden holen. Die Stadt will sich besser vor den Folgen des Klimawandels schützen. Und neue Techniken sollen CO₂ wieder aus der Luft holen.


„Wir haben die meisten Ingenieure pro Einwohner in Nordamerika“, sagt der frühere Bürgermeister. „Wir werden weiter Öl produzieren, wir werden innovativ sein, wir werden die Emissionen reduzieren. Unser Wohlstand unterstützt Innovation.“ Dazukommen soll Hochwasserschutz. Bis 2023 will Fort McMurray 257 Millionen kanadische Dollar investieren für Stützmauern, Dämme, Hügel, Risikoaufklärung. Fort McMurray mauert sich also ein, um sich vor der Klimakrise zu schützen.


Bis 2039 rechnen Öl-Konzerne und die kanadische Regierung mit jährlich steigendem Output der Ölsände. Danach soll er stagnieren, bevor er um 2050 ein wenig zurückgeht. „Die Welt wird noch lange Öl brauchen“, sagt der frühere Bürgermeister. Und Fort McMurray will es liefern. „Wir sind der stabilste Ort, um Öl zu kaufen. Ethisch produziertes Öl, das ist, was die Leute wollen.“


Seit Russlands Überfall auf die Ukraine kann sich Scott in seiner Position bestätigt sehen. Allerdings wird das demokratisch geförderte Öl aus Kanada Europa wohl nicht direkt helfen können. Denn bislang exportiert Kanada in die USA und nach China. Das Öl und Gas fließen von Alberta direkt über Pipelines in den Süden in die USA. Nach China geht der Stoff per Zug zum Hafen von Vancouver, dann mit dem Schiff weiter. Um Europa zu erreichen, müssten Öl und Gas erst mal quer durch das Land an die Atlantikküste im Osten gebracht werden.


Drei Mal so lang ist der Weg von Fort McMurray an die kanadische Ostküste im Vergleich zu Vancouver. Machbar wäre das mit Pipelines. Aber die gibt es nicht. Umweltschutzverbände und Kanadas Indigene haben sich erfolgreich gegen jeden Versuch gewehrt, solche Röhren zu verlegen. Und wirtschaftlich genug erschien es den Ölkonzernen auch nie, um die Pipelines gegen jeden Widerstand durchzusetzen. Experten sagen, bis 2024 könnte Kanada Europa nicht mit Gas helfen.

750 Kilometer südlich von Fort McMurray liegt Calgary. Hier soll sich entscheiden, ob Alberta CO₂-neutral werden kann. Calgary ist eine junge Stadt, die Berge sind nicht weit. In den Nullerjahren wuchsen gläserne Bürotürme in die Höhe, bezahlt mit Öl-Geld. In einem dieser Türme arbeitet ein Mann, der die Öl-Industrie revolutionieren möchte. Er will möglichst viel CO₂ wieder aus der Luft ziehen, indem er einen Start-up-Markt für die Öl-Industrie schafft.

„Carbon-Tech“ nennt das Kevin Krausert. Er ist Chef und Mitgründer von Avatar Innovations.

Die Firma ist im Prinzip ein sogenannter Start-up-Accelerator, sucht also vielversprechende junge Firmen und fördert diese mit Wissen und vernetzt sie mit Kapitalgebern aus der Öl-Industrie. Im Idealfall sollen alle am sinkenden CO₂-Ausstoß verdienen. Und Alberta soll zum globalen Marktführer bei der CO₂-Abscheidung werden.


Krausert war mal Vorstandsvorsitzender von Beaver Drilling, nach eigenen Angaben Kanadas größtem privaten Ölbohr-Unternehmen. Jetzt schlappt Krausert in zu langer Strickjacke und Cordhosen durch das Foyer, vorbei an hellen Holzbänken und bepflanzten Wänden. Auf Flachbildschirmen laufen Präsentationen mit Bildern von Wäldern, zwischendrin poppt immer mal wieder das Foto einer Öl-Raffinerie auf.


In Krauserts Accelerator wird nicht gegen die Öl-Konzerne gearbeitet, sondern mit ihnen. Die Branche hat viel Geld und viele Ingenieure, beides soll neuen Start-ups zugutekommen, das ist seine Idee. „Wenn wir bis 2050 wirklich bei netto null Klimagasausstoß sein und einen bewohnbaren Planeten behalten wollen, brauchen wir alle Mann an Deck“, sagt Krausert.


Tesla-Gründer Musk sponsert das Start-up

Es habe lange gedauert, die Öl-Konzerne hinter seiner Idee zu versammeln, erzählt er. Geholfen hat dabei sicherlich auch Elon Musk. Der Tesla-Gründer sponsert 100 Millionen US-Dollar Preisgeld für einen Start-up-Wettbewerb, Avatar ist Partner. Die beste Idee, Kohlendioxid aus der Atmosphäre zu ziehen und es sicher zu speichern, gewinnt. 2025 wird der Gewinner verkündet.


Die teure Infrastruktur der Öl-Industrie, die Pipelines, die Förderapparaturen, das alles könne für die CO₂-Abscheidung genutzt werden. Dafür brauche es einen Erfindergeist wie bei Thomas Edison, und wenn Krausert das sagt, klingt es wenig bescheiden wie so oft in der Start-up-Welt.


Krausert ist davon überzeugt, dass die Provinz Alberta grün werden kann – und noch mehr. „Ich sehe Calgary als die neue Energiewende-Hauptstadt der Welt“, sagt er. Technologien wie Wasserstoff und CO₂-Abscheidung würden bis 2050 zu Milliardengeschäften werden, da sei Calgary gut im Rennen: „Wir tun dies hier bereits, wir haben die Leute dafür, wir haben das Investitionskapital“, sagt er. „Wir können eine Bedrohung in eine Chance verwandeln. Nicht nur für die Industrie, sondern auch für die Menschen.“


„Die Energiewende wird das Apollo-Programm unseres Lebens sein“

Außerhalb des ölfinanzierten Glasturms feiern nicht alle die CO₂-Abscheidung als Lösung für die Klimakrise. Krausert kennt die Kritik, dass die Technik nur ein Ablenkungsmanöver sei, um weiter ungehemmt Öl und Gas zu fördern. „Dem würde ich grundsätzlich widersprechen“, sagt Krausert. Man müsse alle Lösungsversuche gleichzeitig angehen. „Die Energiewende wird das Apollo-Programm unseres Lebens sein“, sagt er in Erinnerung an das Raumfahrtprojekt, das zum ersten Mal Menschen auf den Mond brachte. „Alle guten Ideen müssen auf den Tisch.“


Es gibt bereits einige Projekte in Alberta, bei denen das Treibhausgas, das die Öl-Industrie in die Luft pustet, über den Schornsteinen sofort wieder einfangen wird. Dann wird es zurück in die Erde gedrückt, zwei Kilometer tief. Fast wie Öl-Förderung rückwärts. Die Erfolge sind bisher nur mäßig, aber solche Projekte sollen nur der Anfang sein. Mehr als 1,2 Milliarden kanadische Dollar wird die Provinzregierung Albertas bis 2025 in zwei Projekte gesteckt haben. Die CO₂-äquivalente Menge von jährlich 600 000 Autos soll so mal über den Schornsteinen abgefangen und in der Erde gespeichert werden. Bisher hat man insgesamt nicht mal die Hälfte des angepeilten Jahresziels geschafft.


Und so fördern sie weiter Öl. Es ist die wichtigste Einkommensquelle in Alberta.

Ölaktivist Robbie Picard steuert seinen Bus von den Ölsänden zurück nach Fort McMurray. Während er auf dem Highway fährt, springen Priscilla und Detroit wild durch den Bus und auf ihre Herrchen. „Hört auf, hört auf“, ruft er immer wieder. Sie gehorchen nicht. Picard hat die beiden brusthohen Hunde aus dem Tierheim gerettet. „Sie haben Trennungsangst“, sagt Picard. Und kurz darauf: „Ohne Öl stirbt Fort McMurray einen schleichenden Tod.“ Man könne sich gar nicht vorstellen, wie viel Öl den Menschen hier bedeute, sagt er.

Als er in seiner Einfahrt zum Halten gekommen ist, sagt er noch: Natürlich müsse die Öl-Industrie mehr beim Umweltschutz machen. „Aber wir wollen nicht dämonisiert werden. Wir fördern doch nur, was jeder will.“


Picard kam als Endzwanziger nach Fort McMurray, weil er nicht wusste, wo er sonst hin sollte. Er brauchte Geld. Fünf Jahre lang fuhr er schlussendlich Lkw für den Öl-Konzern Suncor. Picard, offen schwul, wurde von den Kollegen beschimpft. Warum er die Öl-Industrie so verteidigt, wenn er doch so schlechte Erfahrungen gemacht hat? Die Industrie habe sich gewandelt, sagt Picard, die Stadt erst recht.


Bei Fort McMurray dachten viele früher an Drogen, Prostitution, Gewalt. Jetzt, sagt Picard, sei alles viel familienfreundlicher. Neben seinem Öl-Aktionismus hat er auch noch ein anderes Projekt. Er will 1000 Familien nach Fort McMurray holen. Es sei wunderschön, hier zu wohnen. „Ohne den ganzen Smog in den Städten“, sagt er. Nachfrage, wodurch denn der Smog entstehe? Picard lächelt.

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