Im Rodeo gibt es eine Regel: Auf diesem Hocker sitzt niemand. Wer sich nicht daran hält, für den ist der Abend an der Stelle beendet. Jeder Reutlinger weiß das. Nicht-Reutlinger vergeben nach so einer Erfahrung Ein-Sterne-Bewertungen auf Google. Als würde Peter Töps interessieren, was auf Google über ihn steht.
Peter Töps ist nicht nur der Besitzer des Rodeos. Er ist das Rodeo. Seit 60 Jahren. Eine
Disco aus vergangenen Zeiten. Das Handy zeigt 21.49 Uhr. Covid-Pass-Check an der
Pforte. Peter Töps sitzt wie jeher auf seinem Hocker – der rechte, am einzigen Tisch zwischen Bar und Eingang – und schaut durch seine schwarze Sonnenbrille. Er trägt Vokuhila und, als wahrscheinlich einziger 85-Jähriger der Welt, das schwarze Hemd offen. Dazu Blue Jeans und weiße Sneaker. Um den Hals hat er einen weißen Schal hängen. An den Wänden im Hauptraum hängen Poster von den Alten. Elvis, James Dean, Marilyn Monroe. Hintapeziert, damit sie nicht geklaut werden. Die Zeit hat sogar die Plastikpalmen über den Sitzgruppen verwelkenund die Kaugummis unter den Tischen zu
Diamanten härten lassen. Über der Bar hängt ein Berlin-Fähnchen, neben der Toilette haften Taxi-Telefonnummern mit Preisen in DM. Die Kondome und Sex-Gags im Männerklo kann man schon in Euro bezahlen, immerhin. Doch der Automat schluckt das Geld. Es kommt nichts raus. Aus den Boxen singt Michelle: „Wir drehen die Zeit zurück, nur für einen Augenblick.“
Die Kellnerin, die Peter Töps immer nur „Stift“ ruft, klopft mit ihren Fäusten auf den Holztisch.
„Gut“, sagt sie. Es wurden nur Biere bestellt. Stift, eine kleine Frau mit Thüringer Akzent, ist heimliche Chefin des Rodeo. Sie hält die Bar am Laufen, macht den Service. Hier zu arbeiten ist ihr Hobby, sagt sie. Sie war die letzte in Baden-Württemberg, die Tankwart gelernt hat. Am Tag leitet sie zwei Tankstellen, abends kassiert sie manchmal
noch im blauen Polo-Shirt.
Auf die schachbrettartig geflieste Tanzfläche
hat Peter Töps ein Fass stellen lassen,
damit die Leute nicht zu eng zusammen tanzen.
Es ist ja noch Corona. Neben dem Fass
schwingt ein älterer Mann mit Colgate-Grinsen
eine Frau herum. Auf der anderen Seite
des Fasses rückt ein Paar in olivgrünen Pullis
noch enger zum Foxtrot zusammen.
Vera und Stephan, die nicht ihr Alter, sondern
nur das Baujahr sagen wollen, sitzen am
Tisch neben einem mürrischen Peter Töps
(„Ich hab’ jetzt keine Sprechstunde“). Vor
drei Jahren saß Vera, 66er Baujahr, genau
hier, als Stephan, 65er Baujahr und Hamburger,
sie das erste Mal anlächelte. Stephan
setzte sich neben sie. Peter Töps sagt: „Da
musste ich erst einmal dazwischen gehen.
Da kommt so einer aus dem Norden und wildert
in meinem Revier.“
Vera tanzt im Rodeo, seit sie 18 ist. Peter
Töps interveniert wieder: „Quatsch, ich hab’
dich mit 16 auch schon rein gelassen.“ Und
nun, seit Vera mit Stephan ist, sind die beiden
jeden Freitag und Samstag hier. In Reutlingen
gebe es kaum noch etwas, wo man gut
tanzen gehen könne. Sie sagt: „Die Einrichtung
hat sich nicht verändert. Seit 60 Jahren
nicht.“ Ihr Sohn sitzt im Raucherbereich.
„Das hier ist wie ein Familientreff.“
Dieses Jahr ist besonders für das Rodeo.
Am 1. April 1962 fing Peter Töps als Aushilfe
im Rodeo an, stieg erst zum Kellner, dann
zum Gesch.ftsführer auf. 1977 übernahm er
den Laden. Der erste Pachtvertrag lief nur
auf zwei Jahre. Das Rodeo sollte nichts Langfristiges
werden. Am Kamin hängt ein Plakat
von einer „Rock N’ Roll Nacht“ damals. Der
junge Peter Töps mit Anzug, Schlips und Koteletten.
„Ohne kamst du damals gar nicht
rein“, sagt Stephan, der damals gar nicht dabei
war. Aber so will es die Legende.
Um Mitternacht beginnt Vera, mit einer
fremden jungen Blondine Tanzschritte zu
üben. Schritt nach vorne, viermal auftippen,
wechseln und dazu mit den Hüften kreisen.
Kim, 30, ist heute zum ersten Mal hier. Mit
Schwester und Freunden feiert sie den 63.
Geburtstag ihrer Mutter Moni. Moni hält die
Zigarette wie eine Filmdiva aus der Schwarz-
Weiß-Zeit. Als das Rauchverbot in die badenwürttembergischen
Discos kam, widmete
Peter Töps seine Disco in einen „Tanzclub“
um, was ja das gleiche ist. Er freut sich immer
noch diebisch über dieses Schnippchen. Moni
zieht an ihrer Zigarette und sagt: „Heute
ist der schönste Abend seit 13 Jahren.“
Was macht das Rodeo so besonders? „Es
ist Teil der Geschichte Reutlingens. Seit
60 Jahren hat sich nichts geändert“, sagt Moni.
Kim sagt: „Du kannst hier sein, wie du
willst.“ Wie kann es sein, dass sich Leute in
einer verwelkenden Tanzbar, die von einem
85-Jährigen geführt wird, freier fühlen als
überall anders, wo man sich Offenheit auf die
Regenbogen-Fahne schreibt? Alex, der Tätowierte
an der Bar, sagt: „Wir haben hier noch
nie einen Türsteher gebraucht. Die richtigen
Leute fühlen sich von diesem Ort angezogen.
Bei den falschen sorgt der Peter schon dafür,
dass sie nicht mehr kommen.“
Als die Hells Angles den Laden mal kaufen
wollten, habe er sie einfach nicht rein gelassen,
sagt Alex. Als die Polizei kontrollieren
wollte – dasselbe. „Wenn Peter keine
Lust auf etwas hat, dann juckt ihn das nicht.“
Zum DJ-Pult muss man hinaufsteigen,
wie auf eine Kanzel. Auf den Stufen stehen
schöne, junge Menschen. Dahinter stapeln
sich Single-Platten, CDs und Kassetten. Der
da noch schwarze Michael Jackson hängt an
der Wand und ein hölzernes Wagenrad vorne
am Pult dran. Peter Töps muss hoch, steckt
seinen Gehstock in die schönen Menschen-
Traube, teilt sie wie Moses das Meer. Eine
schöne, junge Frau reagiert zu langsam und
bekommt eine Standpauke.
Stift schreit hoch: „Peter, leg Abba auf.“
Peter Töps schaut sie fragend an. Seit er Corona
hatte, hört er schlecht. Schmecken und
riechen tut er gar nichts mehr. „A-B-B-A“,
buchstabiert Stift. – „Abba ist gestorben.“
Peter Töps hat eine 56 auf der Hand tätowiert.
Der Rest eines Datums. Die Tinte der
anderen Zahlen ist verblasst. Rechnet man
zurück, dann war Töps 1956 gerade 19 Jahre
alt, ungefähr das Alter, in dem er aus Berlin,
aus dem Land, das sie hier nur „Scheiß-DDR“
nennen, abgehauen ist. Warum, will er nicht
sagen: „Zu lange her.“
Stammkunde und Reutlingens FDP-Chef
Hagen Kluck weiß: „Peter war Fernmeldetechniker
und hat seiner Mutter ein Telefon
besorgt, indem er die Leitung eines Offiziersquartiers
angezapft hat. Als er erwischt
wurde, musste er weg.“
Peter Töps DDR-Lehre wurde im Westen
nicht anerkannt. Über den Schwarzwald kam
er nach Reutlingen. „Die alten Schwaben haben
mich gehasst, weil ich Flüchtling war“,
sagt er. Dabei sollten die froh sein. „Ich hab’
denen die Kultur gebracht. Ohne mich würden
die heute noch vom Balken scheißen.“
Ein Leben später sitzt Peter Töps immer
noch in Reutlingen auf seinem Hocker in sei
ner Disco. Nun denkt er über das Aufhören
nach: „Nach mir wird die Bude abgerissen.“
Er spricht über Brandschutz, über den toten
Busbahnhof, über ein Museum, das mit den
Sachen aus dem Rodeo gefüllt werden könnte
und über seinen Urlaub einmal im Jahr,
wenn er in die alte Heimat fährt, ein Boot mietet
und raus über die Seen schippert.
Wenn die letzten Gäste weg und er allein
ist, legt er manchmal Ben Zucker auf:
„Du hast so viel mitgemacht...
Du lebst am Tag und lebst bei Nacht...
Hast oft geweint, denn es war nie leicht...
Doch selbst geteilt, warst du noch eins...
Du bist so dreckig, wunderschön, einzigartig, anzusehen...
Nur bei dir fühl ich mich zuhause...
Du bist mein Berlin.“
Er dreht dann immer auf volle Lautstärke.
Hagen Kluck von der FDP erinnert sich, dass
er gerne seinen 70. Geburtstag im Rodeo feiern
wollte. Peter Töps meinte damals, er sollte
lieber den 69sten. feiern, am 70sten habe
das Rodeo nämlich nicht mehr auf. Das war
vor mehr als zehn Jahren.
„Aufhören könnte ich jederzeit, wenn ich
keine Lust mehr habe“, sagt Peter Töps und
ruft zu Stift rüber. „Stimmt doch, oder?“ –
„Was?“ – „Ich höre bald auf.“ – „Nein, tust du
nicht.“ – „Jaja.“
Vicky Leandros singt „Ich liebe das Leben“,
als die letzte Kundin noch mal bestellt.
Zwei Afghanen – Cola mit Lambrusco. An der
Bar hängen die Fotos seines Lebens. Auf zwei
steht Peter Töps oben auf dem DJ-Pult. Keine
drei Jahre Jahre soll das her sein. Ohne
Hemd, die Zeigefinger zur Decke. Zwei Gedanken:
Wie kann ein Mann, der den ganzen
Tag in seiner Kneipe sitzt, nur so braun sein.
Und: So sieht keiner aus, der aufhören will.
Peter Töps hat kaum etwas gesagt an diesem
Abend, jetzt sagt er: „Ich habe eh schon
genug gesagt. Feierabend.“ „Fährste selber“,
fragt Stift. „Natürlich“, sagt Peter Töps und
schaut sie empört an. Gleich kommt das letzte
Lied. Jeden Abend das selbe. „Gute Nacht,
Freunde“ von Reinhard Mey.
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