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Die Händler wollen wieder öffnen - weil sie es müssen

Es ist kurz nach Mittag an einem Freitag. Der Januar ist fast vorbei, die Corona-Inzidenz in Main-Spessart erholt sich langsam, da poppt auf einmal ein Video der Lohrer Werbegemeinschaft auf. Über 20 Händler stehen im Regen, hinter ihnen das Alte Rathaus. Die Botschaft könnte nicht klarer sein. "Wir machen auf...", beginnt der Chor. Angelika Winker, die Vorsitzende der Werbegemeinschaft fährt fort: "...merksam auf die Situation unserer Händler. Wir sind am Ende unserer Möglichkeiten. Bitte lassen Sie uns nicht im Regen stehen." 


Das Video wurde seitdem 314 Mal geteilt. "Wir konnten nicht mehr so tun, als wäre alles gut", sagt Winkler am Telefon über die Aktion. Gerade hat sie noch etwas im Lager der Boutique erledigt, die sie mit ihrer Mutter betreibt. Jetzt ist sie schon wieder auf dem Heimweg, kurz nach zehn Uhr morgens. Dann sagt sie den Satz, den viele Händler und Gastronomen gerade teilen: "Wir müssen öffnen." 


Die Redaktion hat in den vergangen Tagen mit Gastronomen, Händlern, Werbegemeinschaften, Verbänden, Bankern, Insolvenzberatern und Experten für Innenstadtentwicklung aus dem gesamten Landkreis gesprochen. Wir wollten wissen, wie schlimm die Situation wirklich ist. Wie sieht es finanziell bei Händlern und Gastronomen aus? Was sind deren Ängste, deren Hoffnungen für die Zukunft? Was bedeutet das für die Innenstädte und wie wollen die Händler überhaupt wieder öffnen, während sich eine dritte Corona-Welle andeutet? 


Situation der Händler und Gastronomen im ganzen Landkreis angespannt

Nicht mal nach der Finanzkrise im Jahre 2008 sei so wenig Hoffnung gewesen, wie jetzt. Das sagt der Lohrer Frank Bernard. Er ist der Geschäftsführer des Bund der Selbstständigen (BDS) in Unter- und Oberfranken. Alle sechs Monate fragt der branchenübergreifende Wirtschaftsverband seine Mitglieder für den sogenannten "Geschäftsklimaindex" nach ihrer Stimmung. Der Index sei, sagt Bernard, das erste Mal seit er eingeführt wurde, im negativen Bereich. "Zwölf Prozent geben an, dass sie kurz vor der Insolvenz stehen."


Zoomt man in die einzelnen Main-Spessarter Kreisstädte hinein, sieht es nicht besser aus – wenn auch eine "Pleitewelle" ausgeblieben ist. In Lohr werden von 120 Händlern drei schließen, sagt Angelika Winkler. "Bei denen kam aber einiges zusammen. Da ist Corona nicht alleine Schuld." Einige stünden jedoch kurz vor der Insolvenz. In Gemünden sei bisher jeder durchgekommen, sagen Helena Neuf und Else Platzer vom Stadtmarketing-Verein. Auch sie machen sich Sorgen, dass auf den letzten Metern einigen die Luft ausgeht.

Ähnliches hört man auch aus Karlstadt, wo nur das Gasthaus Rosen schließen musste. Die Corona-Folgen sollen, genau wie in Lohr, nur das Zünglein an der Waage gewesen sein. In Marktheidenfeld steht einigen auch das Wasser bis zum Hals. Teilweise verzichten Vermieter einfach auf ihre Mieteinnahmen. Und obwohl die Main-Spessarter Kleinunternehmer laut Einschätzungen wirtschaftlich vergleichsweise gut dastehen: Je nachdem, wen man aus diesen vier Städten fragt, kippt die Stimmung gerade – oder sie ist schon längst gekippt.


Vom Optimismus nach der ersten Welle ist wenig geblieben

Dabei war nach der ersten Welle im Frühjahr noch Optimismus da. Jedem Wirtschaftszweig war es gleich schlecht gegangen. Main-Spessart war durchzogen von Solidarität. Irgendwann konnten die Leute unter Hygienebestimmungen wieder Einkaufen und Einkehren – sie taten es auch. Das Wetter war schön. Manch einer holte ausgefallenen Umsatz zumindest zum Teil wieder rein. Dann kam der Herbst, "wie ein Hammer" (Neuf). Denn eines sagen alle: Der zweite Lockdown war wesentlich schlimmer als der erste.


Von den Kleinunternehmern in den Innenstädten, mit denen wir gesprochen haben, fühlen sich viele als das "Bauernopfer" der zweiten Welle. Alle anderen Wirtschaftszweige durften weiter machen, die Discounter waren voller Menschen und verkauften dazu praktisch die gleichen Produkte wie viele Einzelhändler. Zudem entdecken immer mehr Kunden Amazon. Und während die Kleinunternehmer mit anschauen, wie Amazon-Chef Jeff Bezos innerhalb von wenigen Wochen zum reichsten Mann der Welt wurde, mussten sie sich mit ToGo-Essen und Click & Collect durch den Winter schleppen. Der Umsatz rechtfertigte oft nicht den Aufwand. Einen "reinen Notnagel" nennt das deshalb Bernard. Als "eine große Ungerechtigkeit" bezeichnet Angelika Winkler die Situation. 


In manchen Branchen ist über den Winter 90 Prozent des Umsatzes weggebrochen. Aus den Städten heißt es, dass vor allem die Gastronomie sowie Spielwaren-, Schmuck-, Geschenk-, Schuh- und Kleider-Läden zu den Sorgenkindern zählen. Nach langen Beratungen hat die Ministerpräsidentenkonferenz in der Nacht auf Donnerstag nun verhaltene Lockerungen für den Einzelhandel und noch verhaltenere für die Außengastronomie in Aussicht gestellt. Ein Schritt in die richtige Richtung, findet BDS-Geschäftsführer Bernard. "Es wurden Perspektiven geschaffen, allerdings ist die Gastronomie, der Fitness-und Sportbereich, so wie mit Einschränkungen der Einzelhandel, mit durchwegs guten Hygienekonzepten, immer noch außen vor. Die Komplexität muss man ebenfalls bemängeln."


Psychische und finanzielle Belastungen durch ungewisse Zukunft

Und selbst wenn jetzt die Ladentüren aufgehen, heißt das noch lange nicht, dass die finanziellen Probleme der Händler, Dienstleister und Gastronomen aufhören. Zum einen ist sich jeder der Befragten darüber im Klaren, dass die Innenstädte jetzt nicht von Kunden überrannt werden. Es ist ja immer noch Pandemie. Zum anderen lassen staatliche Hilfen noch immer auf sich warten. Die Überbrückungshilfen für November und Dezember landen teilweise jetzt erst auf den Konten. Bei einigen stehen sie sogar noch aus. Markus Baumann, der Firmenkunden bei der Raiffeisenbank Main-Spessart betreut, nennt die Situation "sehr bedauerlich". 


Baumann glaubt außerdem, dass die eigentlich schwere Zeit für die Kleinunternehmer erst noch kommen könnte. Denn wer keine riesigen Rücklagen gehabt habe, musste häufig Kredite aufnehmen. Viele der Hilfen müssen außerdem noch versteuert werden. Sobald der Kampf mit der Pandemie vorbei ist, könnte für einige der Kampf mit Kreditrückzahlungen und Steuernachzahlungen beginnen. Und selbst wenn die Unternehmer das alles überstehen sollten, wird in den kommenden Jahren wohl eher kein Geld für notwendige Modernisierung und die Digitalisierung über bleiben – selbst bei Leuten, die eigentlich gut gewirtschaftet haben. 


"Die Zukunftsangst ist enorm", sagt Angelika Winkler. Sie wisse von einigen Händlern, dass sie ihre für den Ruhestand geplanten Rücklagen geopfert hätten. "Hier in Lohr führen manche schon 30 Jahren ihr Geschäft. Ihr Berufsleben ist nicht mehr so lang, dass sie das Geld schnell wieder erwirtschaften können."


Öffnungen in der dritten Welle: eine gute Idee?

Der Virus wird allerdings nirgends auf die leichte Schulter genommen. "Alle sollen eine gute Zeit haben, vor allem aber gesund bleiben. Der Schutz geht vor", sagt Winkler. Zu den Vorgaben, die die Staatsregierung macht, wollen die Mitglieder der Lohrer Werbegemeinschaft deshalb zusätzliche Hygienemaßnahmen schaffen. Den Slogan für die Werbekampagne hat Winkler auch schon: "Einkaufen in Lohr: Das ist sicher." 

In der Realität würden sich in den Kleinstädten die Kunden sowieso gut über den Tag verteilen. 70 Prozent der Kleinunternehmer, sagt BDS-Geschäftsführer Bernard, hätten maximal 300 Kunden pro Woche. Das wären bei fünf Öffnungstagen mit sechs Stunden höchstens ein Kunde alle zehn Minuten. "Und wir können sogar noch weiter entzerren", sagt Susi Keller vom Karlstadter Stadtmarketing. Ihre Kollegin aus Gemünden, Helena Neuf, sagt: "Die Menschen gehen zum Einkaufen und in die Apotheke. Wir tragen seit einem Jahr Masken und halten Abstand. Das hört in kleinen Geschäften ja nicht einfach auf." Else Platzer: "Wir wollen einfach nur eine Chance." 


Am Ende des Telefongesprächs will der Raiffeisenbanker Baumann noch etwas zum Thema Innenstadt generell loswerden. Gastronomen, Händler, Buchläden, Metzger – durch sie werde ein Ort erst lebenswert und deshalb müssten sie von der Bevölkerung auch unterstützt werden. "Was nützt es uns als Gemeinschaft, wenn zwar große Industrieunternehmen zehn Prozent mehr Umsatz machen, es dafür aber niemanden mehr in der Stadt gibt, der mir und den dort Beschäftigten eine Semmel zu Mittag machen kann?"

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