1 Abo und 2 Abonnenten
Artikel

"Wir müssen die Demografie wenden"

Immer mehr Supermärkte gehen auf die grüne Wiese. Ortskerne drohen zu veröden. Landrätin Sabine Sitter und Saskia Nicolai vom Regionalmanagement erzählen, wie sie das verhindern wollen.

An der Lebensmittel-Nahversorgung hängt eine Litanei an Themen: die Lebensqualität, der soziale Zusammenhalt, Leerstände oder der Öffentliche Personennahverkehr. Vergangene Woche hat die Redaktion bereits näher beleuchtet, welche Probleme entstehen, wenn es keine Supermärkte mehr in den Orten gibt. Saskia Nicolai ist seit neun Jahren Regionalmanagerin im Landratsamt Main-Spessart und kennt die Nahversorgungssituation im Landkreis wie wenig andere. Im Doppel-Interview mit Landrätin Sabine Sitter sprechen die beiden über ihre Lösungsvorschläge.


Frage: Gleich im zweiten Satz eines vom Landkreis in Auftrag gegeben Gutachtens zur Nahversorgung in Main-Spessart heißt es, dass diese vor allem für ältere und immobile Menschen "problematisch" sei. Wie sehen Sie das?

Saskia Nicolai: Wir sind der Meinung, dass ein gut sortierter Dorfladen schon für eine gute, zeitgemäße Versorgung reichen kann. Dann nämlich, wenn der Unterschied zum Supermarkt darin liegt, dass es nicht 13 verschiedene Marmeladensorten gibt, sondern drei. Aber es stimmt: Bei der fußläufigen Erreichbarkeit wird's ganz schnell problematisch. Gerade wenn wir die Situation in Verbindung mit dem demografischen Wandel betrachten. Der Landkreis wird ja immer älter.

Sitter: In einem gut funktionierendes Dorfgefüge, wo sich die Menschen gegenseitig helfen, mache ich mir da aber überhaupt keine Sorgen.


Frage: Urspringen bemüht sich um einen Dorfladen, Gräfendorf hat schon länger einen. In manchen Orten funktionieren sie wiederum nicht.

Nicolai: Natürlich sind Dorfläden keine Selbstläufer. Es braucht immer wieder Aktionen, man muss seine Nische finden und etwas Besonderes bieten. Doch am Ende ist jeder Dorfladen ein Riesen-Mehrwert.

Sabine Sitter: Was ich wichtig finde, ist dieses Wir-Gefühl, dass die Dörfer spüren: "Das ist unser Laden". So kann er der zentrale Ort für jede Lebensphase werden und die Gemeinschaft stärken.


Frage: Ein Großteil der Orte in Main-Spessart verliert Einwohner. Der Einzelhandel zieht aus dem Dorf, die Wirtshäuser schließen. Die Orte werden unattraktiver. Wie wollen sie diese drohenden Negativspiralen verhindern?

Sitter: Unser Interesse muss sein, dass sich die Demografie wendet. Viele junge Menschen wollen in die Stadt, aber wir sehen einen Umkehrtrend. Den müssen wir nutzen, indem wir junge Familien unterstützen, wenn sie sich an Häuser innerhalb des Dorfes wagen wollen. Dazu gehört auch die Infrastruktur darum herum: von Kindergärten bis zur Digitalisierung.


Sie meinen: Kommen die Einwohner zurück, folgen die Wirtshäuser?

Sitter: So in etwa. Wir haben grundsätzlich wahnsinnig gute Voraussetzungen. In Main-Spessart haben wir Arbeitsplätze, große, internationale Firmen und wir sind extrem wirtschaftsstark. Aber weil wir gefühlt ländlich sind, schaffen wir es nicht, unsere Vorteile auch rüberzubringen. Das muss unser Fokus sein.


Und wie wollen Sie jetzt konkret die Lebensmittel-Nahversorgung verbessern?

Nicolai: Klar ist, dass wir die Standortentscheidungen von Supermärkten und Discountern nicht so beeinflussen können, damit sie in die kleinen Orte mit wenig Einwohnern gehen. Neben der Bewerbung von Dorfläden, Wochenmärkten oder regionalen Produzenten vor Ort, gibt es noch die Möglichkeit den Bürger zu den Supermärkten zu bringen. Deshalb haben wir vor einigen Jahren eine Informationsveranstaltung rund um die Gründung von Bürgerbussen organisiert. In Kreuzwertheim, Hasloch, Schollbrunn und Triefenstein gibt es inzwischen welche. In Karlstadt gibt es einen Senioreneinkaufs-Fahrdienst.


Werden die auch genutzt?

Nicolai: Genaue Auslastungen kann ich nicht nennen. Das sind in der Regel Kleinbusse, die von Ehrenamtlichen gefahren werden. Den Senioren muss man natürlich auch erst die Verlässlichkeit zeigen und sie motivieren, da auch mit einzusteigen. Eine Hemmschwelle ist da.


Womit wir beim ÖPNV wären. Wie sehen Sie das Henne-Ei-Problem: Fährt der Bus unregelmäßig auf die Dörfer, weil ihn so wenige nutzen oder nutzen ihn so wenige, weil er so selten auf die Dörfer fährt?

Sitter: Unsere älteren Menschen werden so lange Auto fahren, wie sie können. Main-Spessart ist ein Flächenlandkreis, mit all seinen Vor- und Nachteilen.

Nicolai: Bei der Fahrplanumstellung 2019 haben wir versucht, die Takte mehr auf Einkaufsverhalten der Menschen zuzuschneiden. Das ist gar nicht so einfach. Es fehlen oft Wendemöglichkeiten oder Haltestellen. Manche Orte haben deshalb Bushaltestellen an die Lebensmittelmärkte gelegt, Langenprozelten zum Beispiel oder Karlstadt.


Das klingt interessant. Frau Sitter, könnte es unter Ihnen denn mehr in diese Richtung gehen?

Sitter: Wir schauen gerade, wie wir die Mobilität an die Nahversorgung kriegen und umgekehrt. Wir arbeiten auch nach, damit nicht mehr so viele leere Busse herumfahren. Hier, wie bei dem ganzen Thema "Mobilität", müssen wir innovativ denken. Aus den Gremien kommen ähnliche Forderungen: das 365 Euro Ticket für Senioren, fahrradfreundliche Kommunen, die Reaktivierung der Werntal-Bahn. Mobilität ist nicht nur das Auto oder der Bus.


Frage: Ohne Auto wird es also weiterhin schwierig bleiben?

Sitter: Es wird immer ein Teil sein. Wir werden Mischmobilität in irgendeiner Form hinbekommen müssen.


Frage: Lebensmittelhändler sind Magneten. Wenn Sie jetzt nicht mehr im Ort sind, wie kann man diese Magnetwirkung ersetzen?

Nicolai: Durch die Bündelung verschiedener Angebote: vom Geldholen über ein Café ist vieles möglich.

Sitter: Ich beobachte, dass auch aus dem Gesundheitsbereich viele Firmen diese Rolle einnehmen. Die gehen oft in Leerstände rein, die der Einzel- und Lebensmittelhandel hinterlässt. Und zum Arzt muss jeder. Das erzeugt Frequenz.

Nicolai: Im ganzen Landkreis gab es in den vergangenen Jahren innovative Ansätze. Alleine im letzten Jahr haben zwei Unverpackt-Läden aufgemacht. In Burgsinn gibt es einmal im Monat einen Erzeugermarkt. Da kauft man nicht nur ein, sondern kommt auch mit den Erzeugern in Kontakt.


Und es entstehen regionale Wirtschaftskreisläufe.

Sitter: Es hat auch den Effekt, dass sich die Leute so gesünder ernähren und die Landwirte sichtbarer und geschätzter werden. Die Diskussion über die großen Discounter, die den Bauern in der Tasche hängen, kennen wir ja. Am Ende, das hat man auch bei Corona gesehen, greifen in Krisensituationen diese kleinen Strukturen viel besser.

Zum Original