Ein Teil des Istanbuler Viertels Tarlabaşi soll modern und erdbebensicher werden. Die historischen Häuser und seine alteingesessenen Bewohner weichen. Sie werden sich keine der neuen Wohnungen leisten können und fürchten, dass Tarlabaşi nur der Anfang ist.
Von Marta Popowska
Noch stehen die Ruinen im Istanbuler Viertel Tarlabaşi. Seit dem vergangenen Jahr versteckt die Stadt sie aus Sicherheitsgründen hinter meterhohen Blechmauern. Wer jetzt noch einen Blick erhaschen möchte, steckt seine Kamera unter dem Zaun durch und drückt ab. Der Anblick: eine Geisterstadt.
2007 wurde von der Istanbuler Stadtverwaltung das Stadterneuerungsprojekt Tarlabaşi beschlossen. Das heruntergekommene Viertel, das zum hippen Stadtteil Beyoğlu gehört und nur einen Katzensprung vom zentralen Taksim-Platz entfernt ist, soll modern und erdbebensicher werden. So lautet die offizielle Begründung. Ein 20.000 Quadratmeter großer Teil des Viertels und damit auch denkmalgeschützte Häuser aus dem 19. Jahrhundert werden dafür abgerissen und wieder neu aufgebaut. Die neuen Fassaden sollen dem historischen Abbild nachempfunden werden.
„Es ist wie ein Versuchsgebiet"
Nachdem die letzten Bewohner mehr oder minder freiwillig gegangen sind, wurde die Gegend zu gefährlich. Erst machten sich Drogendealer und Prostituierte breit, dann kamen die sogenannten Recycler und Trödler. Sie fingen an, die Türen, Fenster und Geländer rauszureißen. „Viele Häuser waren vorher schon in schlechtem Zustand, von da an stieg die Einsturzgefahr", sagt die deutsche Journalistin Constanze Letsch, die in Istanbul lebt und für ihre Doktorarbeit seit 2008 in Tarlabaşi unterwegs ist.
„Es ist wie ein Versuchsgebiet mitten im Zentrum", sagt Letsch. Geplant war, dass das Projekt 2010 abgeschlossen wird. „Warum nichts passiert, weiß irgendwie niemand." Und so siechen die Überreste vor sich hin und warten, dass sich ihnen jemand annimmt.
Mussa Ataman (54) ist Kurde. Er sitzt auf einem Hocker mitten auf einer Straße. Neben ihm seine Krücke. Er lebt bei seinem Bruder und dessen Familie unweit der Ruinen, die einst sein Zuhause waren. Ataman sieht müde aus, seine Kleidung ist abgetragen. Er wirkt, als säße er seit Jahren auf diesem Stuhl und warte. Er erzählt von Schikanen gegen Nachbarn, wie alten Frauen das Wasser abgestellt wurde und ähnliches. Ob sie protestieren? Nein, was sollten sie denn tun? Viele hier vertrauen auf Gott und nehmen es hin. Sie haben nie gelernt sich aufzulehnen. „In Tarlabaşi gab es sehr wenig Proteste", sagt Letsch. Ein Aspekt ihrer Arbeit ist der Widerstand der Bewohner gegen das Projekt. Sie hatte erwartet, dass mehr passiert. „Gerade von den Kurden, aber nicht einmal die BDP, die kurdische Partei, hat sich interessiert."
Niemand weiß, wie es weitergeht
Einst lebten vor allem Griechen und Armenier in Tarlabaşi. In den achtziger Jahren zogen dann Kurden her, viele schlugen sich als Tagelöhner, Müllsammler, Schuhputzer durch. Aber auch Roma, afrikanische Flüchtlinge, Illegale oder Transsexuelle, die jetzt ein paar Straßen weiter gezogen sind, leben hier. Am Abend sieht man sie und viele Prostituierte auf dem Tarlabaşi Boulevard. Gestalten der Nacht, die die mehrspurige Straße und künstliche Grenze zwischen dem angesagten Beyoğlu und dem armen Tarlabaşi, auf und ab laufen. Das Viertel hat seit jeher Menschen ein Obdach gegeben, für die es anderswo in der Stadt keinen Platz gibt.
Noch weiß keiner, ob in Tarlabaşi weiter abgerissen wird, „oder ob die Stadt hofft, dass mit den Neubauten eine Gentrifizierung im restlichen Teil des Viertels ganz von selbst einsetzt", sagt Letsch. Mussa Ataman rechnet mit dem Abriss. Wo er danach hingeht? „Vermutlich werde ich gezwungen eine Sozialwohnung zu kaufen." Leisten kann er sie sich nicht.