Marta Popowska

Journalistin / Reporterin, Stuttgart

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Feature

Zu Risiken und Nebenwirkungen

An den Tag, als der Tod sie für 20 Minuten zu sich holt, kann sich Felicitas Rohrer noch gut erinnern. Es ist der 11. Juni 2009, um 9 Uhr beginnt ihre Sprachprüfung an der Uni Freiburg. Bevor sie in den Armen ihres Freundes zusammenbricht und ihr Leben sich für immer verändert, schafft Felicitas Rohrer noch drei Stufen zur Toilette. Dann streckt eine beidseitige Lungenembolie sie nieder.

Seitdem sind sechseinhalb Jahre vergangen. Es ist der 17. Dezember 2015, als Felicitas Rohrer (31) einen Saal im Landgericht Waldshut-Tiengen, an der deutsch-schweizerischen Grenze, betritt. Sie ist aufgeregt. Der mediale Rummel ist enorm, überall sind Fernsehkameras, Journalisten wuseln um sie herum. Sie alle blicken auf die kleine Felicitas Rohrer, die den großen Pharmakonzern Bayer verklagt. Sie und ihr Anwalt wollen beweisen, dass die Antibabypille namens Yasminelle von Bayer bei der vorher kerngesunden Frau eine Thrombose mit anschließender fulminanter Lungenembolie verursacht und sie damit beinahe umgebracht hat. Es ist der erste Prozess in einem solchen Fall in Deutschland. Es könnte ein Präzedenzfall werden. Doch er wird schwierig.

Yasminelle gehört zu den modernen Antibabypillen. Viele Hersteller von Pillen der sogenannten dritten und vierten Generation setzen auf neue Wirkstoffe. Dazu gehören künstliche Gestagene wie Desogestrel, Gestoden und im Falle Yasminelle das Drospirenon. Doch seit einiger Zeit herrscht Uneinigkeit zwischen Kritikern, Herstellern und Behörden seit Studien vielen neuen Wirkstoffen ein höheres oder gar unklares Risiko für Thrombosen und Lungenembolien bescheinigt haben. Erreicht wurde bislang, dass dieser Hinweis in Beipackzetteln stehen muss.

In Rohrers Beipackheft aus dem Jahr 2007 steht nichts davon. „Es gab damals schon Warnhinweise und Medienberichte, dass das Risiko höher ist“, ärgert sich Rohrer und legt das Heftchen auf ihren Esstisch. In den gelegentlichen Nebenwirkungen stehen Thrombose und Lungenembolie irgendwo zwischen Sehstörungen und Migräne, doch ohne Hinweis auf das höhere Risiko. Auch darauf wird sie sich vor Gericht beziehen.

Rohrer will, dass der Konzern die Verantwortung für sein Medikament und dessen Nebenwirkungen übernimmt, es am besten vom Markt nimmt. Weil man eine Zivilrechtsklage so aber nicht formulieren kann, klagt sie auf Schadensersatz und Schmerzensgeld. 200 000 Euro möchte sie für die Monate im Krankenhaus, in der Reha und die vielen weiteren Monate, in denen sie nicht arbeiten konnte.

Für Rohrers Gegenspieler Bayer, der 2014 mehr als 42 Milliarden Euro Umsatz machte, geht es um weitaus mehr als um bescheidene 200 000 Euro. Seit das Unternehmen den Konkurrenten Schering vor zehn Jahren geschluckt hat, ist Bayer der weltweit größte Hersteller von Verhütungsmitteln. Mit den wegen ihres Wirkstoffes Drospirenon kritisierten Pillen Yaz, Yasmin und Yasminelle erwirtschaftete das Unternehmen 2014 768 Millionen Euro, nahezu doppelt so viel wie mit seinem Kassenschlager Aspirin. In den Jahren zuvor lag der Umsatz sogar meist über einer Milliarde Euro. Summen, die es aus ökonomischer Sicht rechtfertigen, die Pillen auf dem Markt zu belassen. Daran rütteln auch die fast zwei Milliarden Dollar nicht, die der Konzern rund 10 000 Geschädigten in den USA bis heute bezahlte, jedoch ohne eine Schuld einzugestehen. So steht es im Geschäftsbericht.  

Doch die Liste der Tode, die im Zusammenhang mit den drei Präparaten stehen, wird länger: 190 in den USA, 23 in Kanada und 16 in Deutschland. Dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) sind in Deutschland in den vergangenen 15 Jahren insgesamt 492 Verdachtsfälle von venösen Thromboembolien gemeldet worden.

Rohrer sagt der finanzielle Aspekt der Klage ist ihr nicht wichtig. „Ich habe einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn.“ Nach fünf Stunden beenden die Richter den ersten Verhandlungstag. Sachverständige sollen sich dem Fall annehmen. Bis es zu einem zweiten kommt, werden Monate vergehen.

Rohrers Geschichte beginnt wie die von Millionen von Frauen. Ende 2008, sie war frisch verliebt, denkt sie über Verhütung nach. „Meine Frauenärztin legte die Yasminelle gleich auf den Tisch“, sagt Rohrer. Alternativen habe sie nicht genannt, wohl aber die Vorteile der modernen Pille mit dem Wirkstoff Drospirenon. Und die sind im Begleitheft von Yasminelle deutlich hervorgehoben: „Die niedrige Dosierung soll für eine gute Verträglichkeit sorgen und das Drospirenon hat ein paar hilfreiche Zusatznuten auf Lager.“ Dann werden diese Zusatznutzen genannt. Der „Smile-Effekt“, der Feel-Good-Faktor“ und der „Figur-Bonus“. Sie versprechen ein besseres Körpergefühl, schönere Haut und keine Gewichtzunahme.

Statt dem Feel-Good-Faktor bildet sich nach acht Monaten in Felicitas Rohrers linkem Bein eine Thrombose. Unentdeckt wandert das Blutgerinnsel in ihre Lunge und verstopft sie. Immer häufiger hat Rohrer Atemnot, schreckt nachts auf, weil ihr die Luft wegbleibt, kann kaum mehr Sport machen, ist erschöpft vom Stehen. Als die Schmerzen im Brustkorb so stark werden, geht sie zum Arzt. Der diagnostiziert eine Rippenfellentzündung und schickt sie mit einem Antibiotikum nachhause. Als die Schmerzen schlimmer werden und sie nur noch im Sitzen mit Kissen gepolstert schlafen kann, geht sie noch mal zum Arzt. „Ich bat ihn, meine Lunge abzuhorchen“, sagt sie. Das tat er, doch habe er nichts bemerkt.

Vier Tage später liegt sie in der Notaufnahme der Uniklinik und bekommt nur noch mit, wie ein Arzt ihr die Kleider vom Leib schneidet. Als ihr Atem still steht und die Ärzte sie nicht mehr wiederbeleben können, öffnen sie ihren Brustkorb und erkennen die Lungenembolie. 20 Minuten ist sie klinisch tot. Mit einer Notoperation retten die Ärzte ihr das Leben. Obwohl sie ihre Geschichte schon unzählige Male erzählt hat, füllen sich ihre eisblauen Augen, die ihr einen so klaren Blick verleihen, mit Tränen, sie stockt. Die Posttraumatische Belastungsstörung nach der Nahtoderfahrung ist auch nach den vielen Therapien nicht verheilt. Auch körperlich hat die Embolie Spuren hinterlassen. Ihr Leben lang wird sie Blut verdünnende Medikamente nehmen müssen, sie gilt jetzt als Thrombose-Risiko-Patientin.   

Dass Antibabypillen Thrombosen auslösen können, wisse sie. „Natürlich trage ich als Patientin auch die Verantwortung dafür, was ich einnehme“, sagt sie. Doch sie gehörte nie zu einer Risikogruppe. „Ich rauche nicht, war immer sportlich und hatte nie Übergewicht“, sagt Rohrer. Abgesehen davon hätte sie diese Pille nie genommen, wenn sie um das höhere Risiko gewusst hätte. „Aber ich wurde gar nicht vor die Wahl gestellt.“

Neu bedeutet in der Pharmakologie nicht gleich besser. Das weiß der Pharmakologe und Professor für Arzneimittelversorgungsforschung an der Universität Bremen Gerd Glaeske. „Das ist der fatale Begriff der Innovation“, sagt er. Der in Deutschland bekannte Pharmakritiker fordert bereits seit Jahren, Pillen mit einem höheren oder unbekannten Thrombose-Risiko vom Markt zu nehmen oder dass die Behörden sie zumindest noch mal überprüfen. „Für die Hersteller ist die Nebenwirkungsforschung mit der Zulassung abgeschlossen“, kritisiert er das System.

Viel gewonnen wäre laut Glaeske bereits, wenn die neueren Präparate zumindest eingeschränkt verschrieben würden. In Frankreich zeigen solche Maßnahmen Wirkung. Dort werden die Kosten von den Krankenkassen für Pillen der dritten und vierten Generation nicht mehr übernommen. Die Warnungen  und die öffentliche Diskussion haben 2013 die Verordnungszahlen innerhalb eines Jahres um 45 Prozent einbrechen lassen. Zeitgleich sanken Klinikaufnahmen wegen Lungenembolie bei jungen Frauen um mehr als ein Viertel.

Weltweit attestieren die Behörden den neuen Pillen eine überwiegend positive Wirkung. „Ein gemeinsames Risikobewertungsverfahren aller europäischen Arzneimittelbehörden hat 2013 nach Untersuchung aller neueren Studien und Daten bestätigt, dass bei allen zugelassenen kombinierten hormonellen Kontrazeptiva der Nutzen die Risiken überwiegt.“, teilt Maik Pommer, Pressesprecher beim BfArM mit. Die Verantwortung wird an die Ärzte weitergegeben. „Ärzte sollten insbesondere junge Erstanwenderinnen besonders ausführlich über Risiken aufklären und darauf hinweisen, dass Verhütungspillen keine Lifestyle-Produkte.“

Das Bundesinstitut wird die Zulassung jedoch überprüfen müssen, sollte Rohrer den Prozess gewinnen. „Es muss aber eine zweifelsfreie Kausalität zwischen dem Mittel und dem Schaden festgestellt werden und das ist sehr, sehr schwierig“, sagt Professor Glaeske. Das erklärt auch, warum Medikamente so selten vom Markt genommen werden. „Wenn man es ganz böse formulieren möchte, müssten schon haufenweise Tote da liegen“, sagt er.

Der  Pharmakonzern beharrt auf der Theorie der bedauerlichen Einzelfälle. Doch fragt man Rohrer, ist der Einzelfall ein Mythos. Um das zu dokumentieren hat sie sich mit drei Leidensgenossinnen zusammengeschlossen und vor vier Jahren die Selbsthilfegruppe Drospirenon Geschädigter gegründet.  Auf der Internetseite reihen sich fast 500 Erfahrungsberichte junger Frauen, die Thrombosen, Lungenembolien oder Schlaganfälle erlitten haben. „Und wir zeigen nur die ganz schlimmen Fälle“, betont sie. Sie wünscht sich, dass die Gruppe irgendwann nicht mehr nötig sein wird, weil es auch die Pillen nicht mehr gibt. „Es ist ein Medikament für gesunde Frauen und die sollten danach nicht todkrank sein“, sagt sie.