Marlon Grohn

Autor, Journalist, Herausgeber, Köln

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Artikel

Aberglaube (nd-aktuell.de)

Ich sehe Geister, also bin ich

»Man muss nicht abergläubisch sein, um zu wissen, dass die Gegenstände des Aberglaubens Wahres enthalten«, sagte F*** diesen Sommer in unserem Appartment in Venedig. Wir kamen darauf, weil ich kurz zuvor Schillers »Der Geisterseher« gelesen hatte. »Bei Geistern in der Literatur zum Beispiel fühle ich mich immer gut aufgehoben«, pflichtete ich ihm bei, »sie passen da so gut rein und fallen gar nicht weiter auf. Ich fand den Geist von Hamlets Vater immer einen genialen Einfall. Den hinterfragt keiner, es ist klar: Hamlet nimmt Befehle von einem Gespenst entgegen, es kann sich gar nicht anders zugetragen haben.«

»Vergiss nicht das Gespenst«, meinte er, »von dem Marx sagt, es gehe um in Europa. Also Shakespeare und Marx, die beiden klassischen, rationalen Köpfe, operieren ganz selbstverständlich mit Geistern.«

»Sie haben ja auch Recht: Es spukt ja tatsächlich.« F*** nahm einen Schluck von seinem Wein: »In Europa sowieso, immer noch. Ich denke ohnehin, dass der Glaube, es gebe keine Geister, der wirkliche Aberglaube ist. Und was ist mit dieser seltsamen Angst vor Geistern? Wozu? Wir sollten auf sie hoffen. Sie sind unsere letzte Rettung.«

»Ich fand bei Schillers Geisterseher bezeichnend, dass er der rationalste von allen Beteiligten der Erzählung ist: Geistersehen ist einfach sein Geschäft. Diesen Hochstapler, Cagliostro, den gab es ja wirklich. Nur: Wen es auch wirklich gab, waren die Unzähligen von teils Hochgebildeten, die an den Spuk geglaubt haben. Alle glaubten an die Geister, nur der Geisterseher nicht, der wurde reich, indem er sie erfand. Also wenn es keine Geister gäbe, müsste man sie erfinden. Mich zum Beispiel gäb‹s ohne Geister gar nicht. Ich sehe Geister, also bin ich.«

»Ja«, stimmte F*** mir zu, »der Geisterglaube ist der legitime Aberglaube der Aufklärung. Wir können nicht umhin, von ihrer Existenz auszugehen. Es interessiert uns Menschen nicht, ob die Geister überhaupt wollen, dass es sie gibt.«

»Der größte Aberglaube ist ohnehin zu denken, der Aberglaube bewirke nichts oder sei sinn- beziehungsweise zwecklos, nur weil er unwahr ist. In einer Welt, in der die Mehrheit der Menschen abergläubisch ist, funktioniert der Aberglaube – als Profitgeschäft bei Cagliostro, und heute bei der Homöopathie oder den westlichen Werten. Dieser Aberglaube setzt reale Tatsachen. ›Es soll auch helfen, wenn man nicht dran glaubt‹, sagte der Physiker Niels Bohr einmal über das Hufeisen, das über seiner Tür hing und Glück bringen sollte.«

Wir diskutierten noch eine Weile, und es wird vielleicht einmal die Gelegenheit geben, mehr darüber zu berichten. Unser Gespräch endete erst am frühen Morgen, als die ersten Sonnenstrahlen schon die Lagune erhellten. Als ich gegen Mittag in der drückenden Hitze aufwachte, war der Geist von F*** verschwunden und nie wieder gesehen. Er hatte seinen Zweck erfüllt. Marlon Grohn

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