Eine Lauchzwiebel hing schlaff in meiner Hand, als mir Zweifel kamen. Es war vor drei Jahren an Pessach, dem jüdischen Fest zur Befreiung der Israeliten aus der ägyptischen Sklaverei. Ich saß in Jerusalem, weißes Kleid, und fragte: "Wie meint ihr das?" Tami lächelte, musterte mich mit ihren schönen persischen Augen, die wässrige Tomaten und schlechte Menschen mit einem einzigen Blick durchschauen, und sagte: "Na, Feinde. Du musst jetzt an deine Feinde denken!"
Wir hatten, dem Brauch folgend, an alles Mögliche gedacht an diesem Abend, an Freunde, Geliebte, Heuschrecken, Frösche, den Auszug der Juden aus Ägypten, die ganze beschwerliche Reise eben. Jetzt also Feinde. "Alles klar", antwortete ich. Alle schlossen die Augen, wir packten die sandigen Lauchblätter, strichen sie den Rücken entlang, jemand murmelte etwas auf Hebräisch, ich knipste mich durch Gesichter: Nachbarn, Politiker, Mark Forster, das Patriarchat (unrasiert, dick, starke Ähnlichkeit mit Harvey Weinstein). Meine jüdischen Freunde hauten den Stängel auf die Schultern, es schien an Inspiration nicht zu mangeln. Mir fiel niemand ein.
Keiner eignete sich zum Feind. Zu harmlos, zu theoretisch, zu tot, zu egal. Ich legte die Zwiebel neben den Teller. Gut, hatte ich halt keine Feinde. Wir aßen uns mit Eiern und Schenkelknochen durch die biblische Geschichte bis zur Ankunft in Israel, und als alle betrunken waren, gab es Fleischbällchen, Tee und einen Familienstreit. Als ich nach Hause durch die Jerusalemer Nacht lief, dachte ich trotzig: Was soll das auch, weshalb sollte ich, junge Europäerin, schlau am Kalten Krieg vorbeigeboren, Feinde haben? Wozu? ...
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