Eine Brennnessel stichelt an meinem nackten Steißbein, als ich neben Alenkas immergrüne Sichtschutzhecke pinkle. Die Terrassentür ist zu, Alenka schläft. Ich laufe barfuß über das feuchte Gras, trete fast auf das zerbissene Gummihuhn ihres Golden Retrievers. Die Fenster der Häuser hier sind in dieser warmen Nacht geöffnet, ein Nachbar hustet, es schallt in die Stille zwischen den gelben Fassaden. Gott sei Dank hat gerade keiner Sex, denke ich, als ich wieder in meinen Schlafsack schlüpfe.
Alenkas Garten habe ich über die Plattform "1nitetent" gefunden. Sie funktioniert wie Couch-Surfing - nur für Camper. Potenziell nette Menschen bieten anderen potenziell netten Menschen kostenlos für eine Nacht ein Fleckchen im Garten an, manchmal mit Essen, manchmal ohne, manchmal mit Bad, manchmal mit Eimer oder Brennnesselbusch. Auf der Website findet sich eine Deutschlandkarte mit über 300 "1nitetents", dazu jeweils eine kurze Beschreibung. Etwa: "Schöne Wiese am Mühlbach. Bei starkem Regen feucht." Oder: "Wer den Wildschweinen beim Wühlen zuhören möchte, darf hier gerne eine Nacht verbringen. Keine sanitären Einrichtungen in der Nähe."
Von Süden nach Norden habe ich quer durch die Republik zufällig drei Gastgeber ausgewählt, bei denen ich mein Zelt aufschlagen will. Ich möchte wissen, wer seinen Garten Fremden zum Schlafen anbietet. Und wie das ist, wenn der eigene Zeltplatz für die anderen Zuhause ist.
Jetzt also Pfaffenhofen an der Ilm. Um das Mehrfamilienhaus, in dessen Erdgeschosswohnung Alenka lebt, zieht sich in L-Form eine gepflegte Rasenfläche; dazu ein paar Beerensträucher, Brennnesseln und ein Komposthaufen in der hinteren Ecke. Alenka hat helle blaue Augen, kommt hörbar aus Sachsen, trägt Perlenohrringe, und nach fünf Minuten scheinen wir uns alles gesagt zu haben. Dann aber holt Alenka einen Tischgrill und selbst gemachten Reissalat hervor, und so kommen wir ins Plaudern. Alenka erzählt, dass sie als Vertriebsmanagerin arbeitet und dass sie 1997 mit ihrem Mann Patrick aus Sachsen in den Westen zog; wir reden über die teuren Mieten in München, wo ich wohne. Aus meiner kostenlosen Übernachtung wird eine Camping-Halbpension mit Ost-West-Small-Talk.
Als ich mich am nächsten Tag aus dem Zelt schäle, sitzt Alenka schon auf der Terrasse und liest ein Buch des indischen Gurus Osho über alternative Beziehungsmodelle. Fast will ich fragen, wie das mit ihr und Patrick so ist. Aber frühmorgens, mit meiner Zahnbürste in der Hand auf ihrer Terrasse, ist mir die Intimität, die sich so unerwartet zwischen uns geschlichen hat, doch wieder unheimlich. Alenka schenkt mir Filterkaffee ein - sie sei gleich zum Brunch verabredet, ich könne aber in Ruhe mein Zelt abbauen. Ich danke ihr für ihre Gastfreundschaft, wir wünschen einander viel Glück für die Zukunft; dann ziehe ich allein die Heringe aus dem Gras.
Eine weitere Nacht verbringe ich in der Lausitz, an der Grenze zwischen Brandenburg und Sachsen. Mein Handynetz verabschiedet sich irgendwo hinter Dresden. Als ich eintreffe, stehen meine Garten-Hosts schon in der Einfahrt ihres Einfamilienhauses und winken. Ich schätze beide auf Anfang 50. Sie trägt ein Kleid mit aufgestickter Sonne, er ein Harley-Davidson-Shirt, eine Harley-Davidson-Cap und drei Haargummis in seinem langen grauen Bart. Ihr Grundstück ist groß, links ein Hühnergehege, rechts Gemüsebeete, dahinter eine Wiese mit Lagerfeuerstelle, auf der auch ein Wohnmobil und ein Aufstellpool Platz gefunden haben.
In den Beeten qualmen Räucherstäbchen, dazwischen steht ein silberner indischer Elefant, irgendwo sehe ich ein eisernes Kreuz. Goa-Musik schallt bis zum Waldrand. Die beiden zeigen mir ihren Garten, die Hennen, ihr Gemüse und ihr neues Leben im Osten, denn eigentlich kommen beide, so erzählen sie, aus Westdeutschland. Spätestens beim Gurkenbeet wird der gemeinsame Boden unter uns brüchig. Er reißt bei der Wendung "die da oben" und wenig später bei "die in ihrer Matrix" und schließlich, als er sagt, dass hinter Corona ein ganz großer Plan stecke.