Marlene Halser

freie Reporterin für Print, Audio und Video, Berlin

2 Abos und 6 Abonnenten
Artikel

Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz: Die Egobranche

Werbebranche: eine Stimmung wie bei "Mad Men" © [M]ZEIT ONLINE; pohlit/​plainpicture

Sexismus ist in Werbeagenturen ein großes Problem. Das sagen Frauen, die es wissen müssen – und berichten von teils schweren Übergriffen.


Als der Geschäftsführer übergriffig wurde, sagt Kathrin Wenkmann*, sei sie neu in der Branche gewesen. Es war im Jahr 2012. Wenkmann war 30 Jahre alt und hatte erst vor Kurzem als Mitarbeiterin in der Kreativabteilung einer Werbeagentur angefangen. "Diese Arbeit erschien mir cooler, hipper und individueller als die Büros, in denen ich zuvor gearbeitet habe", sagt sie. "Ich dachte, ich könnte mich hier besser entfalten, bekäme mehr Verantwortung und würde mehr gesehen." Ihr Arbeitgeber war eine Kreativagentur. Keine klassische Anzeigenwerbung, sagt Wenkmann, stattdessen Planung von Events. Mit ihren Vorkenntnissen habe sie gut reingepasst.

Doch das Agenturleben hatte Nachteile. "Überstunden sind normal und Feiern gehören mit zum Job", sagt Wenkmann. "Das Problem ist, dass es dann auch keine klaren Grenzen gibt." Im Juni 2012 feierte das Team abends in einem Restaurant auf einer Ostseeinsel den Abschluss eines Projekts. Zum ersten Mal sei sie für einen größeren Auftrag vor Ort gewesen, sagt Wenkmann. Auch die Auftraggeber waren an dem Abend im Restaurant. Das sei wichtig für die Geschichte, betont Wenkmann, denn dass der Kunde da gewesen sei, habe sie veranlasst, sich nicht gegen den Geschäftsführer zu wehren.

"Je betrunkener er wurde, desto näher kam er mir", sagt Wenkmann. Zunächst sei sie stolz gewesen, dass sich der Chef für sie, die unerfahrene Mitarbeiterin, interessierte. Aber dann habe er immer wieder den Arm um sie gelegt und seine Hand sei an ihren Hintern gerutscht. "Meine Überlegung war sofort: Die Auftraggeber dürfen davon nichts mitbekommen, weil ich die Firma schützen muss", sagt Wenkmann. Also sei sie lediglich ausgewichen und habe nichts weiter gesagt: "Ich war so auf den Ruf der Firma fixiert, dass mir gar nicht in den Sinn gekommen ist, dass ich mich selbst schützen muss." Heute, neun Jahre später, bezeichnet sie ihre Einstellung von damals als "absurd".

Wofür leben wir? - Der Sinn-Newsletter

Jeden Freitag bekommen Sie alle Texte rund um Sinnfragen, Lebensentscheidungen und Wendepunkte.

Mit Ihrer Registrierung nehmen Sie die Datenschutzbestimmungen zur Kenntnis.

Vielen Dank! Wir haben Ihnen eine E-Mail geschickt.

Prüfen Sie Ihr Postfach und bestätigen Sie das Newsletter-Abonnement.

Ein Grund dafür sind die Berichte über sexualisierte Übergriffe und Machtmissbrauch in Unternehmen, die es in den vergangenen Jahren mehr und mehr gab. Unter dem Schlagwort MeToo erzählten Millionen Frauen aus unterschiedlichen Branchen von ihren Erfahrungen. Die Erzählungen einte, dass Frauen von Männern bedrängt und belästigt wurden. Auch in der Werbebranche. Im August 2020 berichtete DIE ZEIT über einen Sexismusvorwurf bei der Berliner Kreativagentur Scholz & Friends. Ein leitender Kreativer soll auf einer Weihnachtsfeier 2017 öffentlich seinen Penis entblößt haben. Die Geschäftsführung sei diesem Vorfall nicht mit dem nötigen Ernst begegnet, sagten Frauen damals. Außerdem habe es eindeutige Hierarchien zwischen Männern und Frauen sowie gezielt abwertendes Verhalten und sexistische Beleidigungen gegeben.

Christiane Lüders, die ehemalige Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes beriet Scholz & Friends, nachdem der Vorwurf bekannt geworden war. Heute gibt sie Workshops für Unternehmen über sexuelle Diskriminierung und sagt: "Nach meiner langjährigen Beobachtungen würde ich Werbeagenturen als besonders sexistisch hervorheben."

Eine Branche und ihr Problem

Doch stimmt das? Fördert die Unternehmenskultur in Werbeagenturen ? Wie häufig sind Übergriffe und Machtmissbrauch? Und wie sehr hat das Bewusstsein dafür, dass es Sexismus gibt, die Branche verändert? ZEIT ONLINE hat für diese Recherche mit 14 Frauen aus unterschiedlichen Agenturen gesprochen. Weil sie berufliche Nachteile befürchten, sind sie in diesem Text anonymisiert. Mehrheitlich sind sie zwischen Ende 20 und Ende 30. Die Positionen, die sie innehatten oder nach wie vor besetzen, sind unterschiedlich, ebenso die Arbeitgeber, von denen sie berichten. In der Mehrheit der Fälle handelt es sich um große, bekannte Unternehmen - inhabergeführte Agenturen und Netzwerkagenturen, die als Schnittstelle zwischen dem beauftragenden Unternehmen und spezialisierten Dienstleistern agieren. Die Frauen sagen ausnahmslos: Ja, die Werbebranche hat ein Sexismusproblem.

Eine Frau erzählt von einem Vorgesetzten, der ihr an einem Tisch mit vorwiegend männlichen Kollegen vorschlägt, sie solle an der Stange tanzen. Eine andere berichtet von einem Geschäftsführer, der fragt, ob sie sich auf einer Dienstreise ein Zimmer mit ihm teilen wolle. Eine dritte erzählt von einem älteren Kollegen, der sie begrapscht und verfolgt habe. Die meisten dieser Ereignisse sind in den vergangenen zwei Jahren passiert. Zwar sind diese Gespräche nicht repräsentativ, sie lassen aber Schlüsse auf Muster zu, die sich unabhängig von Agentur, Position und Zeitpunkt wiederholen. Sie zeigen auch: Die Frauen sind mit ihren Erfahrungen nicht allein.


Paywall

Zum Original